Die Philosophin
Baron de Laterre, vom Mann mit dem Federhut. Von den endlos langen Tagen des Wartens und der Ungewissheit auf dem Schloss, während ein fremdes Gericht über ihr Schicksal entschied. Und von dem langen Weg zurück in ihr Dorf, an der Hand des alten Pfarrers …
»Mein Gott«, flüsterte Malesherbes, als sie geendet hatte.
»Mein Gott … mein Gott …«
Er legte den Arm um ihre Schulter. Sie sah ihn an. Seine Augen waren blank von Tränen. Er nahm ihre Hand, und umWorte ringend, sagte er: »Ich verspreche Ihnen, Sophie, wann immer Sie einen Freund brauchen – ich bin für Sie da. Ich werde alles für Sie tun, alles. Für Sie und für Dorval.«
Dankbar erwiderte sie den Druck seiner Hand. Und während sie diese in der ihren spürte, hatte sie das Gefühl, als würde das Grauen schwinden, für immer gebannt, solange sie nur zusammen da standen und er ihre Hand hielt.
»Nur eins frage ich mich«, sagte sie nach einer langen Weile, »wenn ein Buch so viel Unheil anrichtet, ist es dann nicht besser, es zu verbieten?«
»Vielleicht haben Sie Recht«, erwiderte er, ohne ihre Hand loszulassen, »und man muss es verbieten. Vielleicht aber ist genau das Gegenteil richtig.«
»Das Gegenteil?«
»Ja, Sophie, so grausam es klingt. Vielleicht muss es Bücher geben, für die Menschen ihr Leben lassen, damit solche Verbrechen nie wieder geschehen.«
12
»Eine solche Verschärfung der Gesetze ist absurd! Die Todesstrafe auf Bücher wäre eine Katastrophe für Frankreich!«
»Anschläge auf den König sind eine Katastrophe! Und Bücher, die dazu anstiften! Es erstaunt mich, dass ich Sie als Zensor Seiner Majestät daran erinnern muss.«
»Sehr richtig, ich bin Zensor, kein Polizist! Ein Land, in dem die Menschen nur Bücher lesen, die mit ausdrücklicherGenehmigung der Regierung verbreitet werden, bleibt ein Jahrhundert hinter seiner Zeit zurück.«
Radominsky erkannte Malesherbes nicht wieder. Noch gestern hätte er die Ordenskirche der Jesuiten darauf verwettet, dass der Direktor der Hofbibliothek der neuen Auffassung der Dinge folgen würde – er hatte bislang immer seine Fahne nach dem Wind gehängt. Doch vor einer Stunde war Malesherbes bei ihm erschienen, unangemeldet, um gegen die Gesetzesinitiative zu intervenieren. Kein Zweifel, aus dem prinzipienlosen Karrieristen war ein entschlossener Parteigänger geworden. Und was noch schlimmer war: Er schien seinen eigenen Worten zu glauben.
»Es ist noch nicht lange her«, sagte Radominsky, »da haben Sie selbst mit einer Ratsverfügung die Enzyklopädie verboten. Was veranlasst Sie plötzlich, sich so vehement für die Sache der Philosophen einzusetzen?«
»Monsieur d’Alembert, ein Mann, der über jeden Zweifel erhaben ist, hat mich um Hilfe ersucht. Er sieht ein Werk gefährdet, das zum Ruhm Frankreichs mehr beiträgt als der Krieg gegen England und Preußen.«
»Ich kenne den Brief.« Radominsky lachte. »D’Alembert verlangt darin, dass die Regierung die Enzyklopädisten vor der Journaille schützt, mit den Mitteln der Zensur! Er will, dass wir seinen Kritikern den Mund verbieten. Was für eine trostlose Scheinheiligkeit!«
»D’Alembert ist Mitglied der Académie Française. Er fürchtet zu Recht um seinen Ruf als Mathematiker.«
»Er ist immer noch beleidigt wegen der Affäre Cacouacs. Man hat ihn und seine Philosophenbande der Lächerlichkeit preisgegeben. Das ist alles.«
»Er hat sich um den katholischen Glauben verdient gemacht.
Sein Artikel ›Genf‹ in der Enzyklopädie ist die schärfste Verurteilung Calvins, die ich kenne.«
»Sein Freund Voltaire, der sich in Genf breit gemacht hat und nun dort den Ton angeben will wie früher hier in Paris, hat ihm die Feder geführt. Außerdem sollte Ihnen aufgefallen sein, dass der Artikel sich nicht allein gegen Calvin richtet, sondern gegen jede Form des christlichen Glaubens. Aber was vergeuden wir unsere Zeit damit, über diesen Päderasten zu streiten?«
»Ich weiß nicht, von wem Sie reden.«
»Von d’Alembert! Sind Ihnen seine widernatürlichen Neigungen nicht bekannt?«
Malesherbes war immerhin so irritiert, dass er eine Prise Schnupftabak nahm. Doch seine Verwirrung dauerte nur ein paar Sekunden. Nachdem er sich geschnäuzt hatte, sagte er: »Auch Sokrates liebte Knaben. Wenn Sie dafür die Todesstrafe verhängen wollen, fürchte ich um den Schlaf so mancher Ihrer Mitbrüder,
mon père.
Sie könnten dann schneller ins Paradies gelangen, als ihnen lieb ist.«
»Schweifen Sie nicht ab!«,
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