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Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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das Gesicht ihrer Mutter zu sehen: eine grinsende Fratze, die sich hob und senkte.
    Die Hand an der Kette, sank Sophie auf ihren Stuhl. Dann schwanden ihr die Sinne.
    Als sie aus ihrer Ohnmacht erwachte, schaute sie in ein totenblasses Gesicht: Malesherbes stand über sie gebeugt und blickte sie mitfühlend an.
    »Es ist vorbei«, sagte er und reichte ihr seinen Arm.
    Erst jetzt bemerkte sie, dass ihre Hand blutete.

11
     
    Zum ersten Mal nach wochenlanger Ödnis war wieder Leben in Versailles. Während auf dem Richtplatz Robert Damiens’ Asche in alle Winde zerstreut wurde, waren im Schloss sämtliche Säle erleuchtet. Überall stand man bis tief in die Nacht in Gruppen beisammen, und wo immer zwei Höflinge miteinander sprachen, gab es nur ein Thema: das gerechte Ende des Königsmörders.
    Wann hatte man sich zum letzten Mal so angeregt unterhalten? Während man neidvoll die wenigen Augenzeugen umringte, die das Privileg genossen hatten, persönlich der Hinrichtung beizuwohnen, ließ Ludwig sich in seinen Privatgemächern von der Pompadour minutiös über den Verlauf des Tages unterrichten. Alles wollte er erfahren, was sich auf der Place de Grève ereignet hatte, nicht das geringste Detail durfte sie ihm vorenthalten. Als sie ihm schilderte, wie derAttentäter bei lebendigem Leibe auseinander gerissen worden war, stieß er laute Schmerzensrufe aus, warf sich auf sein Bett und weinte wie ein Kind.
    »Und als sie den Rumpf aufhoben«, fragte er mit nassen Augen, »hat er wirklich noch gelebt?«
    »So sagen die Scharfrichter, Sire. Er schien sieben Leben zu haben wie eine Katze. Sie haben den Rumpf mit den Gliedmaßen ins Feuer geworfen. Vier Stunden haben die Fleischstücke gebraucht, um zu verbrennen.«
    »Das ist ja entsetzlich, Madame, ganz und gar entsetzlich!«
    Es dauerte bis zum nächsten Tag, bis Ludwig sich von dem Schock erholte. Erst am Mittag sah er sich imstande, vor die ausländischen Gesandten zu treten, die ihn im Spiegelsaal empfingen, als wäre er von den Toten auferstanden. Doch er kannte seine Pflicht und wurde nicht müde, ihnen in aller Ausführlichkeit von der Exekution »seines Mörders« zu berichten, nicht ohne die Gleichgültigkeit seiner Untertanen zu tadeln, die ihm nach dem Attentat nur wenige Beweise ihrer Liebe entgegengebracht hatten.
    Daran ließen es jedoch die Bischöfe und Pfarrer im Land nicht fehlen. Noch während man vom Richtplatz die Hunde vertrieb, die sich auf dem Pflaster der Feuerstelle die Schnauze wärmten, wurden in den Kirchen Dankmessen für Ludwigs wunderbare Errettung gelesen. Zahllose Gemeinden unterwarfen sich in Huldigungsfeiern dem König. Das Parlament stand der Kirche nicht nach. Bereits am ersten Tag nach der Hinrichtung ordnete der Gerichtshof an, dass Vater, Frau und Tochter des Attentäters unverzüglich das Königreich zu verlassen hatten, widrigenfalls sie erhenkt und erdrosselt würden, und die Richter untersagten unter Androhungderselben Strafe allen weiteren Angehörigen, in Zukunft den Namen Damiens zu tragen. Unter dem Eindruck dieser Order bat die Stadt Amiens untertänigst um Erlaubnis, sich nach Seiner Majestät in Louisville umbenennen zu dürfen, um nicht länger an den Mörder zu erinnern, dessen Geburtshaus von Ludwigs Soldaten bereits dem Erdboden gleichgemacht worden war.
    »Wann ist es endlich genug?«, fragte Sophie. »Kann ein Verbrechen so abscheulich sein wie solche Strafe? Wo bleibt das Recht?«
    »Das Recht ist ein Chamäleon«, erwiderte Malesherbes, »vielleicht das wandelbarste überhaupt. Es nimmt jede erdenkliche Farbe an und scheut vor nichts zurück, gleichgültig, was sein Gebieter von ihm verlangt.«
    Sie waren allein in Sophies Appartement. Dorval schlief bereits; sie hatte ihn gerade zu Bett gebracht, als Malesherbes bei ihr anklopfte. Seit er sie von der Place de Grève heimbegleitet hatte, waren seine Besuche beinahe zur täglichen Gewohnheit geworden.
    »Ich hoffe, Ihre Hand hat inzwischen aufgehört zu schmerzen?«
    »Die Wunde ist längst verheilt, die Haut war ja kaum aufgeritzt.«
    Sie drehte sich zum Fenster um. In tiefer Dunkelheit lag draußen der Garten, alles schien zu schlafen. Nur als undeutliche Schemen hob sich Dorvals Vogelhaus vor dem schwarzen Hintergrund der Hecke ab, ein kleiner friedvoller Ort der Geborgenheit in finsterer Nacht.
    »Manchmal glaube ich fast«, sagte sie leise, »auf dem Buch liegt ein Fluch.«
    »Darf ich fragen, von welchem Buch Sie sprechen?«
    »Von der Enzyklopädie. Sie

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