Die Philosophin
am ganzen Körper. Warum nur? Sie versuchte, sich zu beruhigen, redete sich ein, dass es eine ganz gewöhnliche Hinrichtung war, der sie beiwohnen musste, nicht die erste und gewiss nicht die letzte in Paris. Was ging der fremde Mann sie an? Hatte er nicht Strafe verdient? Hatte er sich nicht des scheußlichsten Verbrechens schuldig gemacht, das ein Mensch begehen konnte? Er hatte den König umbringen wollen, den Herrscher, den Gott als Regenten über die Franzosen eingesetzt hatte.
Sie trat einen Schritt zurück, um wieder Platz zu nehmen – da hob der Verurteilte den Kopf. Er schaute genau in ihre Richtung.
Als sie sein Gesicht sah, erstarrte Sophie: ein Schopf dunkler Haare und darunter ein noch dunklerer Blick. Wie viele Male hatte sie in dieses Augenpaar geblickt, aus dem sie jetzt das ganze Elend der Menschheit ansah.
Es war Robert, der frühere Leibdiener von Monsieur Poisson.
»Jetzt! Es geht los!«, flüsterte und zischte es vor und hinter ihr. »Aufgepasst! Sie fangen an!«
Auf einmal war es so still auf dem Platz, dass man das Zwitschern der Vögel hörte. In Sophies Kopf kreiste nur ein Gedanke: Robert … Der Verurteilte war Robert … »Robert der Teufel«, der Mann, der ihr Buch gestohlen hatte … Wie ein böses Gift sickerte die Erkenntnis in ihre Seele ein, langsam und allmählich und schleichend … Die Hände um die Fensterbrüstung gekrallt, war sie unfähig, die Augen von dem Verurteilten abzuwenden. Die Zeit stand still, während sie auf das Schafott starrte, kein Laut drang mehr an ihr Ohr, es gabnur noch ihren Atem und diesen Mann, der jetzt von zwei Knechten emporgehoben und entkleidet wurde.
Robert … Wie eine Puppe ließ er alles mit sich geschehen, wehrlos den rohen Mächten ausgeliefert. Bleich war sein Leib, der nur um die Lenden in ein Tuch gehüllt war, als sie ihn auf den Schragen legten, ihn knebelten und mit Eisenbändern an Armen und Schenkeln befestigten. Während Sophie seinen nackten Leib so schamlos vor sich ausgestreckt sah, empfand sie eine kurze heftige Erregung wie in Erwartung eines Liebesakts. Sie schluckte, um das Gefühl hinunterzuwürgen.
Ein Richter trat zu Robert.
Laut und klar erhob sich seine Stimme über die Menge:
»Nenn uns die Namen deiner Komplizen!«
Sophie zuckte zusammen, als sie Roberts Antwort hörte.
»Ich bin unschuldig!«
»Entlaste dein Gewissen, damit du Gnade im Himmel findest!«
»Ich grüße meine Familie und bete für sie!«
»Gib uns dein Wissen preis, um deines Seelenheils willen!«
»Ich bin des Glaubens voll und habe nur den Wunsch, Frankreich zu dienen!«
Plötzlich begann Sophies Herz wie wild zu rasen, das Blut pochte in ihren Adern. Wie konnte Robert so reden, angesichts des Todes? Der Richter beriet sich mit dem Henker, der gab mit der Hand seinen Knechten ein Zeichen.
»Erstaunlich«, sagte Casanova. »Normalerweise versuchen sie, das Ende hinauszuschieben, und sei es nur für einen Atemzug.«
Am ganzen Körper gelähmt, blickte Sophie auf den Platz. Ein Schrei in ihrer Brust, der sich nicht lösen konnte, schnürte ihrdie Kehle zu. Robert rührte sich nicht. Nur seine schwarzen Augen wanderten hin und her. Aufmerksam, fast neugierig, schaute er seinen Folterern zu, verfolgte mit seinen dunklen Blicken jede ihrer Bewegungen. Der Kessel, in dem der Schwefel brodelte, erfüllte die Luft mit scharfem Geruch. So musste es in der Hölle riechen. Robert hustete ein paar Mal, während ein Knecht ihm ein Messer an die rechte Hand band.
»Ist das die Hand, mit der er den Mord versucht hat?«
»Ich nehme es an«, erwiderte die Pompadour. »Die Hand des Mörders.«
Da gellte ein Schrei über den Platz, ein Schrei so laut, dass er bis in die hintersten Gassen des Viertels zu hören sein musste. Der Henker hielt ein Kohlebecken unter die Hand, um sie mit Schwefelfeuer zu verbrennen, während Robert schrie und schrie und schrie. Sophie schloss die Augen. Sie kannte diesen Schrei, sie hatte selbst einmal so geschrien … Applaus brandete auf, die ganze Anspannung der Menge, die sich bis ins Unerträgliche gesteigert hatte, schien sich in diesem Beifall zu entladen.
Sophie öffnete die Augen erst wieder, als der Applaus verebbte. Robert war verstummt. Als sie ihn sah, schrak sie zusammen. Von seiner Hand war nur noch ein schwarz verkohlter Stumpf übrig, den er mit leerem Blick betrachtete, abwesend, fast unbeteiligt, wie man einen fremden Gegenstand betrachtet, als gehöre der Stumpf gar nicht zu ihm. Lautlos bewegten sich
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