Die Philosophin
waren sie so widersprüchlich, dass jede neue Nachricht die vorhergehende in Frage stellte. Konnte die Wahrheit schlimmer sein als diese Ungewissheit? Beim Verlassen der Frühmesse hatte der Dauphin Louis-Stanislas zu seiner Mutter gesagt, der Kopf der Schlange sei zertreten, die Gefahr für immer gebannt. Sophie, die hinter der Königin und ihrem Sohn aus der Kapelle gekommen war, hatte sich fast zu Tode erschrocken. Sie wusste: Damit konnte nur Diderot gemeint sein!
Ihre Hand zitterte immer noch, als sie eine Viertelstunde später ihrer Herrin einen Becher Eselsmilch reichte. In der Nacht hatte die Pompadour wieder einen schweren Fieberanfall gehabt, schon den dritten innerhalb nur einer Woche. Auf Anordnung von Dr. Quesnay, der die Krankheit nicht zu deuten wusste, hatte man schon vor längerer Zeit eine weiße Eselstute angeschafft, die Dorval auf einer Koppel hinter den königlichen Marställen hütete und täglich zweimal melkte. Doch der Trank zeigte noch immer keine Wirkung. Während Sophie die Messe besuchte, hatte die Pompadour versucht, einen Brief an den Herzog von d’Aiguillon zu schreiben, um ihm zum Sieg von Saint-Cast über die Engländer zu gratulieren – allein, ihre Kräfte hatten nicht gereicht, die Feder zu führen. Seit einer Stunde ruhte sie nun auf ihrer Ottomane, mit geschlossenen Augen, die Hand an der Stirn.
»Es tut mir unsäglich Leid für dich«, sagte sie und nahm den Becher. »Ach, könnte ich dir nur helfen. Aber du siehst ja selbst, was aus mir geworden ist.«
Sophie sah an ihrem Gesicht, dass es echte Anteilnahme war, die aus ihr sprach. Während die Marquise trank, sagte sie:
»Monsieur de Malesherbes hat behauptet, er sei mein Freund. Wie konnte er nur so handeln?«
Die Pompadour stellte den Becher ab und schaute sie an. »Niemand ist gefährlicher als ein Mann, der beim Werben um eine Frau hinter einem anderen Mann zurückstehen muss. Eifersucht ist eine noch schlimmere Triebfeder als Gier oder Angst.«
»Ich hoffe nur, dass nicht Sartine die Durchsuchung geleitet hat. Er muss Diderot hassen. Wenn ich mir vorstelle, was er in seiner Wut womöglich …«
Ein Diener räusperte sich in der Tür. Ihm folgte ein Mann mittleren Alters, der, den Dreispitz unterm Arm, eilig den Raum betrat. Sophie kannte ihn flüchtig – es war der deutsche Journalist Melchior Grimm. Als Herausgeber der
Litterarischen Korrespondenz,
einer Zeitschrift, mit der er die Höfe Europas über das geistige Leben der französischen Hauptstadt unterhielt, war er des Öfteren bei der Pompadour zu Gast. Er schien völlig außer Atem.
»Sie haben Diderots Haus durchsucht!«, stieß er, nach Luft schnappend, hervor, noch während er sich verbeugte.
»Sie sprechen vom Besuch Monsieur de Malesherbes in der Rue Taranne?«, fragte die Pompadour. »Wir sind darüber informiert.«
»Malesherbes? Nein, ein hoher Polizeioffizier namens Sartine, der Sekretär des Generalleutnants, hat die Aktion geleitet. Er hat den ganzen Tag dort verbracht, das Unterste zuoberst befördert, das Arbeitszimmer, das Archiv, die Wohnung, einfach alles!«
Sophie wechselte einen entsetzten Blick mit der Marquise.
»Bitte, erzählen Sie uns genau, was passiert ist!«, sagte die Pompadour und wies ihrem Gast einen Platz an.
»Aber gerne, nichts lieber als das.«
Doch statt zu berichten, prustete Grimm plötzlich los, kaum dass er saß, kicherte und lachte albern wie ein Kind, hielt sich die Hand vor den Mund, ja bog sich geradezu vor Heiterkeit, während die Tränen an seinen Wangen herunterliefen.
Sophie verstand überhaupt nichts mehr. Die Miene der Pompadour verdüsterte sich.
»Wenn Sie so freundlich sein wollten, uns über den Grund Ihrer ausgelassenen Freude aufzuklären?«
»Sie haben nichts gefunden, Madame!«, platzte Grimm endlich heraus. »Kein Manuskript, keine Notizen, keinen einzigen Buchstaben – alles war fort!«
»Wie bitte?«
»Ja, Madame. Stellen Sie sich nur vor! Diderots Arbeitszimmer war leer wie das Grab Christi am Ostermorgen! Ach, wie gern wär ich dabei gewesen …«
17
Diderot stand am Grab seines Vaters. Er hatte die Hände gefaltet, aber seine Lippen blieben stumm. Das Grab war noch frisch, es roch nach Erde und welken Blumen. Ein Brief seiner Schwester Denise, die bei den Eltern in Langres lebte – zusammen mit ihrem jüngeren Bruder Pierre-Didier, einem unduldsamen, streitsüchtigen Abbé –, hatte ihn an seinen Geburtsort zurückgerufen, doch bei seiner Ankunftwar sein Vater schon tot
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