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Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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gewesen. Er konnte jetzt nur noch die Erbangelegenheiten regeln.
    Mit verhangenen Gedanken betrachtete er den schlichten Grabstein:
Didier Diderot, Messerschmied in Langres, 1695–1759.
Der Alte war gestorben, wie er gelebt hatte: Alle Schulden waren bezahlt, geblieben war ein beachtliches Vermögen – Grundstücke, Renten, Warenvorräte –, das seine Nachkommen sich nun teilen konnten. Diderot wusste, er würde von nun an keine Geldsorgen mehr haben.
    Er schaute vom Grab seines Vaters auf und ließ den Blick schweifen. Der Friedhof lag auf einem Hügel über dem Tal. Es war Hochsommer, das ganze Land, das im flirrenden Sonnenlicht vor ihm lag, erbrach sich schier vor Fruchtbarkeit: Weinberge und wogende Kornfelder, so weit sein Auge reichte, darin das Gesumm von Millionen Lebewesen, von Insekten, Bienen, Vögeln, die sich suchten und vermehrten. So viele Jahre war er nicht mehr hier gewesen. Hätte er je fortgehen sollen?
    Die alte Stadt schmiegte sich sanft an den Fuß des Hügels. Wie ein Schlupfloch des Friedens wirkte der kleine Ort inmitten der blühenden Landschaft. Diderot sah das Rathaus, die Messerschmiede, das Jesuitenkolleg, das er in seiner Kindheit besucht hatte. Mit welchem Stolz hatte sein Vater ihn stets empfangen, wenn er mit einer Auszeichnung heimgekommen war … Didier Diderot war ein fleißiger Arbeiter gewesen, der auf Ordnung in seinem Haus und in seiner Werkstatt hielt, ein Patriarch mit festem Kirchenglauben. Priester oder Handwerker hätte Denis werden sollen, wäre es nach seinem Willen gegangen. Der Alte hatte ihn ermahnt, gedrängt, ihn sogar mit der Vollgewalt väterlicher Autorität einsperren lassen, damit die Jesuiten ihm die Tonsur schneiden konnten.
    Und doch war er ihm immer ein Vorbild gewesen, trotz aller Spannungen und Konflikte – der beste aller Väter. Von ihm hatte er gelernt, dass man Verträge einhalten und einmal übernommene Aufträge korrekt ausführen musste. Diderot glaubte, ihn noch in seinem Armstuhl zu sehen, mit seiner ruhigen Haltung und seinem heiteren Gesicht, und seine Stimme zu hören.
    »Denis Diderot?«
    Er drehte sich um. Ein altes, verschrumpeltes Gesicht blickte ihn an. Diderot erkannte es trotz der vielen Falten und Runzeln sofort wieder.
    »Père Lumière, der Küster, nicht wahr?«
    Der Alte nickte. »Monsieur Diderot«, sagte er und fasste ihn am Arm, »Sie mögen ein guter Mensch sein, und in Paris sind Sie vielleicht sogar ein berühmter Mann. Aber wenn Sie glauben, dass Sie jemals an Ihren Vater heranreichen werden, irren Sie sich.«
    Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich ab und ging mit wackelndem Kopf den Weg zur Kirche hinüber. Während Diderot ihm hinterherschaute, gab er ihm tief in seinem Innern Recht. Sein Vater war ein aufrichtiger und gerechter Mann gewesen, stets darauf bedacht, anderen Menschen nützlich zu sein. Ja, nützlich sein – das war sein Lebenszweck gewesen. Ein Versprechen fiel Diderot ein, das er seinem Vater vor zehn Jahren hatte geben müssen als Bedingung dafür, dass der Alte seine Familie unterstützte, während er in der Festung von Vincennes saß: Er solle mit seiner Feder ein »anständiges Werk« schaffen, um sich damit den Segen des Himmels zu erwerben und die Zuneigung des Vaters zurückzugewinnen.
    Diderot strich sich über das schüttere Haar. Hatte er mit derEnzyklopädie ein solches Werk geschaffen? Ja, das hatte er, und diese Gewissheit erfüllte ihn mit Stolz. Doch er wusste auch, dass er dieses Werk immer wieder selbst gefährdet hatte. Dreimal hatte er die Enzyklopädie bedrohlichen Angriffen ausgesetzt, jedes Mal verursacht durch andere Bücher, die ein solches Risiko nicht wert waren, und wenn die letzte Krise nicht das Ende des Wörterbuchs bedeutete, kam das einem Wunder gleich. Einem Wunder, das er einzig und allein Malesherbes zu verdanken hatte.
    Der Schreck, der Diderot beim Anblick des Zensors und der zwei Gardisten in die Glieder gefahren war, hatte nur wenige Sekunden gedauert. Malesherbes war nicht in die Rue Taranne gekommen, um ihn zu verhaften – sondern um ihn vor der Verhaftung zu warnen. In wenigen Stunden, so hatte Malesherbes ihm verraten, würde Kommissar Sartine auf seinen Befehl hin mit einem Dutzend Beamten bei ihm erscheinen, um die Wohnung zu durchsuchen – er solle alles belastende Material fortschaffen, sofort, auf der Stelle!
    »Aber wohin mit Hunderten von Manuskripten?«, hatte Diderot gefragt. »Wen soll ich in solcher Eile finden, der bereit ist, die Papiere

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