Die Philosophin
Türstehern bewacht. Sophie öffnete den Schlag und verließ den Wagen. Madame de Pompadour hatte ihr gesagt, dass Malesherbes’ Frau zusammen mit den Kindern auf dem Land lebte. Der Direktor der Hofbibliothek empfing sie mit einem Handkuss.
»Was für eine unverdiente Ehre.«
»Ich bin gekommen«, erwiderte Sophie, »Sie um Verzeihung zu bitten.«
»Ich? Ihnen verzeihen? Aber weshalb?«
»Ich habe dem äußeren Schein größeren Glauben geschenkt als meiner inneren Überzeugung. Ich hatte geglaubt, Sie wollten Monsieur Diderot vernichten.«
»Den Vater Ihres Sohnes?«
Er hielt immer noch ihre Hand in der seinen, als er sie aus seinen grauen Augen ansah. Sie beschloss, ihm ihre Hand zu lassen.
»Sie mussten mein Handeln missverstehen, Sophie. Wie andershätten Sie mein Verbot der Enzyklopädie deuten sollen? Ich bin es, der Sie um Verzeihung bitten muss«, insistierte er, als sie widersprechen wollte. »Aber glauben Sie mir, ich habe das Wörterbuch nur retten können, indem ich seine Verbreitung untersagte. Die öffentliche Meinung verlangte ein Opfer, ich musste etwas tun, um die Gemüter zu beruhigen. Nur deshalb habe ich das Druckprivileg aufgehoben.«
»Ich mache mir trotzdem Vorwürfe«, erwiderte Sophie.
»Auch wenn dem Anschein nach alles gegen Sie sprach – ich hätte wissen müssen, dass Sie zu solchem Verrat nicht fähig sind.« Sie drückte dankbar seine Hand. »Sie haben Ihre Karriere aufs Spiel gesetzt, Monsieur de Malesherbes. Man hätte Sie anzeigen können, wegen Hochverrat, Sartine hätte keine Sekunde gezögert, wenn er rechtzeitig …«
»Psssst …«, machte er und legte einen Finger auf ihre Lippen.
Unwillig schüttelte sie den Kopf – sie hasste diese Geste. Doch dann sah sie sein Gesicht.
Ein warmes Lächeln füllte seine grauen Augen. Sein Blick umfing sie wie ein milder Sonnenuntergang nach einem langen, stürmischen Tag. Sie sah nur noch Verständnis, Zärtlichkeit, Liebe, und ein Gefühl von warmer, inniger Geborgenheit durchströmte sie.
Sophie schloss die Augen und wartete auf seinen Kuss.
FÜNFTES BUCH
Dornen und Disteln
1760–1766
1
Der süße Geruch der Verwesung hing über Paris, durchströmte die Straßen und Gassen und staute sich auf den Plätzen der prächtigen Stadt, vergor und verklumpte zu einer dumpfen, zähen Reglosigkeit. Nach dem Anschlag auf das Leben des Königs schien es, als sei das Leben selbst aus Paris gewichen. Ein bleierner Friede hatte sich des großen Kraken bemächtigt, unter dem die Gemüter erlahmten, als wären sie für immer betäubt.
Kein Wind regte sich, um die Atmosphäre aufzufrischen und mit neuem Leben zu erfüllen. Woher sollte die Brise auch kommen? Enge und verwinkelte Straßen machten eine freie Zirkulation der Luft unmöglich, die verpestet war von den ewigen Ausdünstungen der Schlachtereien und Fischhallen, der Senkgruben und Friedhöfe. Die Brückenhäuser über dem Fluss hinderten den Wind daran, vom einen Ende der Stadt zum anderen zu gelangen, um die verdorbene Luft der Straßen wegzutragen. Keinen Schritt, keinen Atemzug konnte man tun, ohne dass der Gestank von abgestorbenem Leben einen verfolgte, von Morast und Abfall, von Kot und geronnenem Blut.
Schuld an den infernalischen Dämpfen waren vor allem die offenen Abtritte in den Häusern. Jede Mietpartei beanspruchte inzwischen ihre eigene Latrine, als handle es sich um ein Standesprivileg. Nicht genug damit, dass von den unzähligen Fäkalgruben der abscheulichste Gestank ausging, waren manche Kloaken so widersinnig angelegt, dass ihr Inhalt in die benachbarten Brunnen sickerte. Die Bäcker, die auf das Brunnenwasser angewiesen waren, konnten deshalbnicht darauf verzichten, sodass selbst das Brot, das allergewöhnlichste und alltäglichste Nahrungsmittel des Volkes, durchsetzt war von den Partikeln des Todes.
Beim Leeren der Latrinen verbreitete sich schon im Morgengrauen der Jauchegeruch in der Stadt. Mit aschfahlen, grabesblassen Gesichtern stiegen die Kloakenreiniger in das Innere der Gruben. Zerrüttet und zerfressen von den giftigen Gasen, denen sie dort ausgesetzt waren, betäubten sie sich mit Schnaps, um nicht den pestilenzialischen Miasmen der Unterwelt zu erliegen, außerstande, jemals ihrem Schicksal zu entrinnen, das sie Tag für Tag zur Wiederkehr in diese Hölle verdammte. Um sich den Transport vor die Tore der Stadt zu sparen, schütteten sie ihren braunen Sud, mit dem sie aus der stinkenden Finsternis ans Licht der Oberwelt zurückkehrten, in
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