Die Philosophin
hatte der Geizhals ihm angeboten – zweitausendfünfhundert Livres sollte Diderot in Zukunft pro Band bekommen. Doch was in den letzten Wochen passiert war, hatte die schlimmsten Befürchtungen der Enzyklopädisten übertroffen. Niederlage auf der ganzen Linie! Ein einziger Triumph der Reaktion! Während der Verfasser des Essays
Über den Geist,
der die Katastrophe überhaupt erst ausgelöst hatte, der Generalpächter Helvétius, dank seiner Protektion bei Hofe so gut wie ungeschoren davonkam, war die Enzyklopädie unter immer heftigeren Beschuss geraten. Der Direktor der Hofbibliothek trieb nun selbst die Vernichtung des Wörterbuchs voran. Offenbar war der wankelmütige Malesherbes endgültig eingeknickt, vielleicht hatte auch sein Vater, der Kanzler Lamoignon, ein Machtwort gesprochen. Mit einer Ratsverfügung hatten Vater und Sohn jedenfalls die Druckerlaubnis aufgehoben und Le Bréton offiziell die Fortführung des Werks untersagt, weil der Nutzen, der den Wissenschaften und Künsten aus der Enzyklopädie erwachse, in keinem Verhältnis zu dem Schaden stehe, den Religion und Sitte durch sie erlitten. Und der Generaladvokat des Parlaments forderte das oberste Gericht desLandes auf, mit aller Schärfe des Gesetzes gegen jene Männer vorzugehen, die den Namen der Philosophie missbrauchten, um der Gesellschaft, dem Staat und dem Glauben den Krieg zu erklären. Die Kirche hatte nicht minder schweres Geschütz aufgefahren. Am fünften März 1759 hatte Rom die Enzyklopädie auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt, und der Papst hatte allen katholischen Eigentümern der bereits ausgelieferten Bände befohlen, diese von einem Priester verbrennen zu lassen – wer dem Befehl nicht nachkomme, werde exkommuniziert. Vollständiger konnte ein Buch nicht verdammt werden.
»Herrgott noch mal! Wer hat den Rock nur versteckt?«
»Was kümmert mich dein Schlafrock! Sag mir lieber, wohin du fährst! Was mache ich, wenn ich Geld brauche? Wie kann ich dich erreichen?«
Im »Procope« kursierte seit Tagen das Gerücht von einer großen, noch nie da gewesenen Verhaftungswelle. Kommissar Sartine, Sekretär des Generalleutnants der Pariser Polizei, habe den Auftrag, die Aktion zu leiten, um der Verschwörung ein für alle Mal ein Ende zu setzen. Doch wohin sollte Diderot fliehen? Nach Genf, zu Voltaire? Der hatte nach dem Rückzug seines Vertrauten d’Alembert nicht nur seine Mitarbeit an der Enzyklopädie gekündigt, sondern auch die Rückgabe seiner sämtlichen Manuskripte verlangt. Nach Berlin, zu de Prades? Der Abbé war aus dem Exil zurückgekehrt und saß bereits selbst im Gefängnis, trotz des Widerrufs seiner früheren Thesen. Tage und Nächte hatte Diderot in Angst und Ungewissheit verbracht, bevor er sich zur Flucht entschieden hatte. Eine Kakerlake, die, als er aufwachte, über seine Bettdecke gekrabbelt war, hatte an diesem Morgen den Entschluss ausgelöst.
»Ich will versuchen, mich zur Küste durchzuschlagen, und dann ein Boot nach England nehmen«, antwortete er seiner Frau, während er sich bückte, um weiter zu suchen. »Gott sei Dank, da ist er ja!«
Er fasste nach dem scharlachroten Zipfel, der unter dem Tisch hervorlugte – da entdeckte er seine Tochter Angélique, die sich zu seinen Füßen mit dem Schlafrock versteckt hatte.
»England?«, fragte sie mit vor Angst geweiteten Augen. »Wo ist das, Papa?«
»Auf der anderen Seite vom Meer«, rief Nanette, bevor Diderot antworten konnte. »Weit, weit weg – viel weiter, als ein Mensch schwimmen kann.«
Entsetzt ließ Angélique den Schlafrock los und schlang ihre Arme um Diderots Beine.
»Du sollst nicht nach England, Papa!«, rief sie. »Du darfst nicht, ich lass dich nicht!«
Er musste sich fast mit Gewalt von ihr losmachen, so fest umklammerte sie ihn, während seine Frau weiterhin schimpfte und klagte.
»Ein Leben lang hast du dich für mich geschämt, weil du glaubst, ich bin zu dumm für deine gelehrten Freunde. Nur Kinder durfte ich für dich gebären. Dabei habe ich dich doch immer geliebt und gehofft, auch du würdest mich ein bisschen lieb haben. Jetzt hast du endlich einen Grund, mich zu verlassen …«
Plötzlich verstummte Nanette, und im nächsten Augenblick ertönte eine ruhige, tiefe Männerstimme.
»Monsieur Diderot!«
Er drehte sich um. In der Tür stand Malesherbes, oberster Zensor des Königs und Parlamentsrat, flankiert von zwei Gardisten.
16
Gerüchte von der Razzia waren bis zu Sophie nach Versailles gedrungen, doch
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