Die Philosophin
Notre-Dame schlug siebenmal an. Diderot wandte sich ab, um seinen Weg fortzusetzen. Nein, er hatte beschlossen, all seine Hoffnungen und Anstrengungen auf das Gelingen des Wörterbuchs zu richten. Sein Traum war es, dass die Enzyklopädie dermaleinst zu den begehrtesten Werken bei den Bücherverleihern gehörte, schmutzig und zerrissen, voller Eselsohren und Fettflecken, abgegriffen von den begierigen Händen der Menge: ein Depot aller Kenntnisse,das aufgeklärte Menschen täglich nutzten wie die Betschwestern ihr Gebetbuch. Keine Macht der Welt durfte ihn an der Verwirklichung dieses Traumes hindern.
Vor allem aber träumte er davon, eines Tages Dorval und Angélique das vollendete Werk aushändigen zu können: das ganze Wissen der Menschheit, die reine, vollkommene Wahrheit, die Wegkarte zum Paradies auf Erden – als sein Vermächtnis für seine Kinder.
3
Am Arm von Malesherbes betrat Sophie die Comédie Française, wo ihr Begleiter als Direktor der königlichen Hofbibliothek eine eigene Loge besaß. Aber warum war das Theater wie ein Feldlager besetzt? Am Eingang empfing sie eine ganze Kompanie Wachsoldaten mit geschultertem Gewehr, als ginge es gegen einen Feind, obwohl nur eine Komödie von Voltaire auf dem Spielplan stand. Die grimmige Miene, die der Gardemajor zog, während er den Lauf seines Gewehrs vor den Augen des Publikums mit einer Kugel lud, erlaubte keinen Zweifel an seiner Entschlossenheit, das Theater wie eine Festung gegen jeden Angriff zu verteidigen.
Heute jährte sich der Tag, seit Sophie mit Malesherbes in einer Liaison am Hof lebte. Die Tatsache, dass der Staatsrat seit über zehn Jahren verheiratet war, stand einer solchen Verbindung nicht im Wege. Eine Ehe, so hatte Madame de Pompadour Sophie erklärt, wurde nicht im Himmel geschlossen, sondern beim Notar, den Ausschlag gab nicht die Liebe,sondern die Vernunft. Jeder Mann hatte eine Mätresse, jede Frau einen Hausfreund, das war die Regel, gegen die kein Mensch mit ein bisschen Lebensart etwas einwenden konnte. Sophie hatte sich an diesen Umgang der Geschlechter inzwischen ebenso gewöhnt wie an die Perücke auf ihrem Kopf und die dicke Schicht Puder, die nun die Sommersprossen auf ihren Wangen bedeckte.
Nein, sie hatte noch keine Stunde bereut, dass sie dem Rat ihrer Gönnerin gefolgt war und den Direktor der Hofbibliothek erhört hatte. Malesherbes war ein ebenso intelligenter wie liebevoller Mann, der sich nicht nur auf reizende Weise um sie bemühte, sondern sich auch rührend um ihren Sohn Dorval kümmerte, als wäre der Junge sein eigen Fleisch und Blut. Außerdem fühlten Sophie und Malesherbes sich durch ihr gemeinsames Interesse an der Enzyklopädie verbunden. Dass sie einmal Diderots Geliebte gewesen war, hinderte den Zensor nicht, im Verein mit ihr dessen Lebenswerk nach Kräften zu fördern. Die Pompadour behauptete sogar, Malesherbes würde Diderots Kandidatur für die Académie unterstützen, die Voltaire unlängst ins Gespräch gebracht hatte, um durch solche öffentliche Anerkennung die ständigen Angriffe auf die Enzyklopädie und die Person ihres Herausgebers zu unterdrücken.
Im Parterre herrschte bereits ein fürchterliches Geschiebe und Gedränge, als Sophie und Malesherbes in ihrer Loge Platz nahmen. Der Zulauf war so groß, dass man sich mit lauten Flüchen um die Plätze im Parkett stritt und einander fast die Rippen eindrückte. Während ein schnauzbärtiger Füsilier die Zuschauer wie Hühner auf der Stange einreihte und kraft seines Amtes beschied, wie viele Hinterteile auf jede Bank passten, reichte in der Loge ein Lakai Ingwerkonfekt undChampagner. Malesherbes lehnte beides ab, stattdessen holte er seine Schnupftabaksdose hervor.
»Nun sagen Sie schon, was Sie auf dem Herzen haben«, forderte Sophie ihn mit einem Lachen auf, nachdem sie von ihrem Glas genippt hatte. »Wenn Sie eine Prise brauchen, muss es sich um etwas Ernstes handeln. Wollen Sie mir etwa das Du anbieten?«
»Wie gut Sie mich doch kennen«, erwiderte er. »Ja, Sophie, die Vertrautheit des Du mit Ihnen zu teilen wäre mein sehnlichster Wunsch, doch wage ich noch nicht, Sie darum zu bitten. Ich möchte Ihnen einen anderen Vorschlag machen, einen Vorschlag, der unser gemeinsames Leben betrifft.«
»So feierlich, Monsieur de Malesherbes? Hat Ihr Vorschlag am Ende gar mit unserem Jahrestag zu tun?«
»Nicht unmittelbar, doch schien mir dieser Tag besonders geeignet, Ihnen mein Ansinnen vorzutragen …«
Lautes Klatschen und Johlen im
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