Die Philosophin
die Abflussgräben und Rinnsteine. Auf diese Weise ergoss sich die Brühe in Richtung der Seine und verseuchte die Ufer des Flusses, aus dem die Wasserträger mit ihren Eimern das Wasser schöpften, um es zurück in die Häuser zu bringen, wo die Pariser sich damit wuschen und davon tranken.
Am widerwärtigsten aber war der Gestank, den die Kirchen verströmten. Manche Gotteshäuser waren von den Ausdünstungen der dort aufgebahrten Leichen derart verpestet, dass die Gläubigen sich weigerten, noch einen Fuß hineinzusetzen. Um ihre Gefolgschaft nicht zu verlieren, behaupteten die Priester, was für Todesdunst gehalten werde, sei in Wahrheit nur harmloser Modergeruch, der in den alten Gemäuern niste. Jede Leiche, versicherten sie, werde noch in der Nacht nach der Totenfeier auf die Friedhöfe verbracht und keine einzige verbleibe in den Kirchengrüften. Doch wer mochte solchen Beteuerungen Glauben schenken? Der Leichengestank vergiftete jede Andacht und jede Messe, während draußen vorden Gotteshäusern Feuer brannten, um die bösen, mephitischen Dämpfe zu vertreiben, ohnmächtig flackernde Purgatorien, die nicht die geringste Abhilfe an dem unerträglichen Übelstand schafften.
So vegetierte der große Krake dahin, betäubt vom Leichengeruch seines eigenen Leibes, der bereits zu verwesen schien, bevor der Krake sein Leben ausgehaucht hatte. Würde er noch einmal die Kraft haben, sich aufzurichten aus seinem morastigen Bett? Um den Leichengeruch abzustreifen und sich aus sich selbst heraus zu erneuern, an Haupt und Gliedern?
2
Die Turmuhr von Saint-Germain-des-Prés rief die Gläubigen bereits zum Angelus, als Diderot sein Haus in der Rue Taranne verließ. Er musste sich beeilen, um sieben war er mit einem Uhrmacher am Quai de l’Horloge verabredet, und er wollte auf keinen Fall unpünktlich sein. Wenn er zu spät kam, hatte der Meister womöglich mit der Arbeit begonnen, und der Weg war umsonst.
Die ersten Limonadenkellner waren schon mit ihren Tabletts unterwegs, während im fahlen Licht des anbrechenden Tages noch die letzten Nachtschwärmer von ihren Freudenmädchen kamen. Blass und mitgenommen sahen sie aus, wie sie sich über die Place Taranne schleppten – den ganzen Tag würden sie die verschwendete Nacht bereuen, nicht anders als die Spieler, die erst jetzt ihre finsteren Höhlen verließen,obwohl schon das helle Hämmern der Kesselflicker zu hören war. Diderot hatte nur Verachtung für die Müßiggänger übrig. Würde sich das Leben nach ihnen richten, müssten alle Grobschmiede, die am Morgen mit der Feile kratzten, alle Stellmacher, die Eisenreifen auf Räder nieteten, alle Händler, die schreiend durch die Gassen zogen, aus der Stadt verbannt werden; die Glocken dürften nicht mehr durch die Lüfte klingen, die Trommeln der Garde hätten zu schweigen, und die Straßen müssten gepolstert werden, damit die Kutschen lautlos über das Pflaster rollten, bis diese Faulenzer sich aus ihren Lotterbetten erhoben.
Diderot war Frühaufsteher, wie die Arbeiter und Handwerker, die überall aus den Häusern strömten, um sich mit ihm auf den Weg zu ihrem Tagwerk zu machen. Was für ein Glück, dass er die Arbeit an der Enzyklopädie fortsetzen konnte! Dieses Wunder war allein Malesherbes zu verdanken. Der Zensor hatte sich nicht nur zur stillschweigenden Duldung des Werkes bequemt, sondern zudem die Weiterführung ermöglicht, durch Arrangements und Vereinbarungen, die alle offiziellen Sanktionen tatsächlich außer Kraft setzten. Zwar hatte Malesherbes den Verleger zur Zahlung von zweiundsiebzig Livres an jeden Subskribenten verpflichtet, als Entschädigung für die ausgefallenen Textbände, die ja nicht mehr gedruckt werden durften, doch um sein eigenes Verbot zu unterlaufen, welches das ganze Unternehmen unweigerlich hätte ruinieren müssen, hatte er Le Bréton zugleich gestattet, den Ansprüchen der Kunden ersatzweise durch Lieferung von grafischen Werken Genüge zu tun. Dazu hatte er die Druckerlaubnis für eine
Sammlung von tausend Tafeln über die Wissenschaften, die freien Künste und die Technik
erteilt, ein scheinbar harmloser Titel, unter dem sich in Wahrheitdie Tafelbände der Enzyklopädie verbargen. Da auch die Subskribenten mit dieser Regelung zufrieden waren – kein einziger verlangte von Le Bréton die Rückzahlung seines Geldes –, konnte also unter dem Schutz des Zensors das Werk fortgeführt werden, als hätte es nie ein Verbot der Enzyklopädie gegeben.
Diderot hatte sich mit
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