Die Philosophin
seinem Verleger folgenden Plan ausgedacht: Während sie Jahr für Jahr die offiziell genehmigten Tafelbände lieferten, um die Subskribenten stillzuhalten, würden sie gleichzeitig die noch ausstehenden, aber verbotenen zehn Textbände fertig stellen. Diese wollten sie an einem fingierten Druckort »im Ausland« produzieren, zum Beispiel auf »Kythera« wie vor Jahren die
Geschwätzigen Kleinode,
um sie dann als »Importware« mit einen Schlag unters Volk zu bringen – das alles in der Hoffnung, dass die Aufregung aufseiten der Regierung und der Kirche sich bis dahin gelegt hatte.
Um dieses Ziel zu erreichen, arbeitete Diderot wie ein Besessener. Von morgens bis abends war er für sein Werk unterwegs. Sein besonderer Ehrgeiz galt dabei den Tafelbänden. Diese sollten in die Hände von Fachleuten gelangen, wie sein Vater einer gewesen war, in die Hände von Handwerkern und Ingenieuren, die jedes Rädchen kannten und nach den Zeichnungen arbeiten wollten, um ihre Erzeugnisse zu verbessern. Die Tafeln sollten den Stand der Technik genauer und anschaulicher illustrieren als jedes andere Werk zuvor sowie die Schönheit der Darstellung und die wissenschaftliche Präzision in bislang unbekannter Weise vereinen. Täglich suchte Diderot zu diesem Zweck Handwerker auf, ging in die Werkstätten der Strumpfwirker, Gobelinarbeiter und Möbeltischler, befragte sie nach ihren Werkzeugen und Methoden, ließsich in die Geheimnisse von Webstühlen und die Mechanik von Flaschenzügen einweihen, hörte Vorlesungen über Chemie und Physik, fertigte eigenhändig Skizzen und Modelle an, instruierte Zeichner und Grafiker, damit sie alles so exakt wie irgend möglich wiedergaben, während Jaucourt, fleißig wie eine Biene, sich um die Redaktion der Textbände kümmerte. Er exzerpierte, kompilierte und schrieb, Stichwort für Stichwort, Beitrag für Beitrag, unermüdlich Tag für Tag, ohne sich je bei seiner Artikelmühle zu langweilen, als hätte Gott ihn ausschließlich für diese Tätigkeit erschaffen – ja, der Chevalier verkaufte sogar eines seiner Häuser, um auf eigene Kosten ein halbes Dutzend Schreiber anzustellen und so den Fortbestand der Enzyklopädie mit seinen privaten Mitteln zu sichern.
Am Hôpital Bicêtre hielt Diderot sich den Ärmel vor den Mund, so ekelhaft war der Gestank, der ihm dort entgegenschlug. Vermummte Arbeiter warfen gerade zerstückelte Leichenreste, an denen junge Chirurgen der Anatomie ihre lebensnotwendige Kunst geübt hatten, auf einen Jauchekarren, der vor dem Eingang des Krankenhauses wartete. Diderot war empört: Wann würde man endlich anfangen, die mephitische Luft und ihre mörderischen Einwirkungen mit den modernen Mitteln der Chemie zu bekämpfen?
Jeden Monat gingen Dutzende von Menschen an den giftigen Dünsten und Dämpfen der Stadt zugrunde. Dabei versprachen neue Versuche zur Zersetzung der Luft, der stinkenden Geißel Herr zu werden. Was für eine Pflichtvergessenheit des Magistrats, die Augen vor den Wundern der Chemie zu verschließen! Konnte es für eine Regierung etwas Wichtigeres als die Gesundheit der Bürger geben? Hing die Kraft zukünftiger Generationen nicht von solcher städtischer Fürsorge ab?Weit besser, als später die Opfer der verpesteten Luft mit Almosen und Spitalbetten zu unterstützen, wäre es, schon jetzt mit den Methoden der Wissenschaft die Zahl der Unfälle und Krankheiten zu vermindern, welche die Leerung der Abtritte und Senkgruben verursachte. Diderot beschloss, einen Artikel zu dem Thema zu schreiben.
Als er den Quai erreichte, stieg von der Seine eine frische Morgenbrise auf, die für einen Atemzug allen Gestank von Unrat und Verwesung zu vertreiben schien. Diderot blieb an der Ufermauer stehen. Während er die saubere Luft so tief er nur konnte einsog, spürte er, wie sie in seine Lunge strömte und ihm neue Lebenskraft gab. Würde die Enzyklopädie einmal wie diese Brise die Fäulnis und Verwesung aus den Köpfen der Menschen und den Kanzleistuben der Regierung verjagen?
Nur einen Steinwurf entfernt war die Treppe, die zur Seine hinabführte. Der Anblick des Ortes tat ihm in der Seele weh. Dort hatte er sich immer mit Sophie getroffen. Seit ihrer letzten Begegnung im Salon d’Holbach nach der Aufführung des
Natürlichen Sohns
wusste Diderot, dass sie jede weitere Begegnung ablehnen würde. Wollte er selbst sie wieder sehen? Es hieß, sie sei inzwischen die Mätresse von Malesherbes. Das erübrigte die Antwort auf seine Frage.
Die Stundenglocke von
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