Die Philosophin
Parterre unterbrach ihn. Sophie schaute über die Brüstung in den Bühnenraum hinab. Sie war nicht weniger neugierig auf die angekündigte Komödie als das Publikum dort unten, das von den Gardisten nur noch mit Faustschlägen zu bändigen war.
Endlich ging der Vorhang auf.
Les Écossaises
hieß das Lustspiel und war im Programmheft als eine Übersetzung aus dem Englischen angegeben. Tatsächlich aber war es eine Antwort Voltaires auf die Verleumdungen der Philosophen durch die selbst ernannten Seelenretter in den Kirchen, die Kanzelhusaren und Gotteskanonen, die nicht müde wurden, gegen die Enzyklopädie zu Felde zu ziehen. Diesmal fanden sich die Jesuiten auf der Bühne wieder, um als Kröten, Schlangen und Spinnen vorgeführt zu werden – ein zoologischer Gartender Boshaftigkeiten, bevölkert von all jenem Getier, das Gott von seiner Liebe ausgeschlossen hatte.
»Darum also das Aufgebot an Soldaten!«
Während Sophie bedauerte, dass Madame de Pompadour sie wegen einer fiebrigen Unpässlichkeit nicht hatte begleiten können, gerieten die Zuschauer im Parkett außer Rand und Band. Sie schrien und pfiffen so laut, dass die Schauspieler kaum noch zu verstehen waren, warfen mit Obst und Gemüse und unterbrachen die Aufführung immer wieder mit frenetischem Beifall, sodass die Gardisten alle paar Minuten einschreiten mussten, um ihre Begeisterung zu dämpfen.
»Erinnern Sie sich, Monsieur de Malesherbes, was Sie mir bei unserer ersten Begegnung über das Publikum gesagt haben?«
»Dass es die einzige Instanz sei, die immer Recht hat?«
Sophie nickte. »Ich glaube, heute verstehe ich den Grund: Jeder Einzelne im Publikum kann ein Schwachsinniger sein, insgesamt aber ist es ein Genie.«
»In der Tat«, pflichtete Malesherbes ihr bei, »man sollte dem Parterre erlauben zu klatschen und zu pfeifen, wie es ihm gefällt. Man wird dem Staatsfeind deshalb nicht weniger energisch zu Leibe rücken, wenn man ihn zu Gesicht bekommt. Aber was haben Sie?«
Ihm war nicht entgangen, dass Sophie kaum noch zuhörte. Sie war abgelenkt durch den Anblick eines Mannes, der von einer Nachbarloge aus das Geschehen verfolgte: Pater Radominsky, der Beichtvater der Königin. Mit versteinertem Gesicht wohnte er der Aufführung bei, allein in der Höhle des Löwen, während die Schauspieler auf der Bühne ihn und seinesgleichen verspotteten.
»Dass er den Mut hat, sich hier blicken zu lassen«, sagte Malesherbes. »Respekt!«
»Allerdings«, erwiderte Sophie. »Aber wenn ich mich nicht irre, wollten Sie mir einen Vorschlag machen, der unser Zusammenleben betrifft?«
Statt sogleich zu antworten, nahm er umständlich eine Prise. Irritiert durch seine ungewohnte Ernsthaftigkeit, fasste Sophie sich an den Hals, während sie seinen Blick erwiderte. Doch sie griff ins Leere. Malesherbes hatte sie gebeten, auf den Talisman an diesem Abend zu verzichten. Er mochte den kleinen geschnitzten Engel nicht leiden.
Endlich schnäuzte er sich. Dann blickte er sie an und sagte: »Haben Sie schon einmal daran gedacht, Sophie, sich von Monsieur Sartine scheiden zu lassen?«
4
Pater Radominsky stand an der Brüstung seiner Loge und starrte auf die Bühne, während seine Hände das Geländer umklammerten, als wollten sie es zerquetschen. Keine Regung in seinem Gesicht verriet, wie aufgewühlt er in seinem Innern war. Dabei musste er sich Gewalt antun, um sich nicht zu erbrechen – so heftig war der Widerwille, den die Pöbeleien dort auf der Bühne in ihm hervorriefen. Das Schauspiel, das eine Horde grell geschminkter Komödianten vor seinen Augen in Szene setzte, bedeutete die Leugnung aller Werte, für die er sein Leben lang gekämpft hatte. Das Wort Gottes, die geoffenbarte Wahrheit, wurde auf dem Altar menschlicher Vernunft geopfert, mit unabsehbaren Folgen für den Glauben und das Königreich.
Radominskys düstere Gedanken waren keine Hirngespinste, nicht kleinliche Reaktion auf die persönliche Kränkung, die ihm hier widerfuhr. Das Stück, an dem die Zuschauer sich wie Schweine an einem Trog stinkender Abfälle ergötzten, war mehr als nur Theater. Die gottlose Zersetzung, die hier in aller Öffentlichkeit betrieben wurde, wirkte nicht nur auf der Bühne – bis ins Herz der katholischen Kirche war sie bereits vorgedrungen, um sich wie ein Krebsgeschwür auszubreiten. Sogar der Papst und seine Kardinäle waren davon befallen, nicht anders als der König von Frankreich und seine Minister, unfähig, zwischen Freund und Feind zu
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