Die Philosophin
blank, um den Pöbel unter Kontrolle zu halten, doch das Geschrei im Parkett wurde nur immer lauter.
»Nieder mit den Pfaffen! Die Kuttengeier an die Laternen!«
Ein Ei zerschellte auf Radominskys Soutane. Doch der Gottesmann wich nicht vom Fleck – er war noch nie vor seinen Feinden zurückgewichen. Erhobenen Hauptes ertrug er die Geschosse und Pfiffe, die sein Priestergewand und seine Ehre mit faulem Obst und mit Schande befleckten. Der Schöpfungsplan stand auf dem Spiel, und solange Gott der Herr ihm die Kraft gab, würde er Sein Werk verteidigen, in der Gewissheit, dass am Ende die Vorsehung über den Antichrist siegen würde.
Nein, Pater Radominsky wankte nicht. Während er die Angriffe ohne zu murren ertrug, betete er nur zu seinem Herrgott um ein Zeichen, dass die Zeit der Prüfungen bald ein Ende habe.
Erst als der letzte Vorhang fiel, wandte er sich ab und verließ seine Loge. Den Judasgruß von Chrétien de Malesherbes, dem obersten Zensor des Landes, der ihm aus der Nachbarloge zunickte, erwiderte er nicht.
5
»Was heißt das – adoptieren?«
»Als Sohn annehmen, wie ein Vater.«
»Aber ich habe doch einen Vater, er hat das große Buch geschrieben, die Enzyklopädie! Warum soll ich einen neuen Vater kriegen?«
Das ganze Unverständnis seiner acht Jahre sprach aus Dorvals hellen blauen Augen. Seit einer halben Stunde bestürmte er Sophie mit seinen Fragen, weil er nicht begreifen konnte, was sie ihm zu erklären versuchte. Aber war das verwunderlich? Sie selbst war ja auch vor dem Vorschlag zurückgeschreckt, den Malesherbes ihr am Abend zuvor im Theater gemacht hatte: Der Direktor der königlichen Hofbibliothek wollte ihren Sohn adoptieren, als Zeichen seiner Verbundenheit. Darum hatte er sie gefragt, ob sie sich von Sartine, als dessen Sohn Dorval juristisch immer noch galt, scheiden lassen wolle.
»Ich will keinen neuen Vater«, wiederholte Dorval. »Warum kann ich nicht bei meinem richtigen Vater sein?«
»Du weißt doch, dass er in Paris lebt. Er muss dort das große Buch zu Ende schreiben.«
»Dann sollten wir auch nach Paris ziehen. Vielleicht kann ich ihm ja helfen.«
»Aber das geht doch nicht! Madame de Pompadour ist krank, sie braucht mich, um wieder gesund zu werden.«
»Dann soll mein Vater hierher kommen. Wir haben Platz genug.«
»Wie stellst du dir das vor? Er hat hier keine Arbeit, um Geld zu verdienen. Wovon soll er leben?«
»Er kann mir helfen, die Eselstute zu melken. Dann hat Madame bestimmt nichts dagegen, dass er kommt. Und um das Essen mach dir keine Sorge! Der Koch ist mein Freund.« Dorval war so aufgeregt, dass er beim Sprechen nach Luft schnappte. »Du hast ihn doch noch lieb, oder?«, fragte er plötzlich.
Sophie musste schlucken, so unvermittelt traf sie die Frage. »Die Liebe«, sagte sie dann, »ist das Schönste, was es gibt auf der Welt, aber sie hält nur selten ein ganzes Leben.«
»Das glaub ich nicht!«, rief er empört. »Ich hab dich immer lieb, solange ich lebe. Und wenn der König es mir verbieten würde!«
»Das macht mich sehr glücklich, mein Schatz, aber das ist nicht das Gleiche. Eltern und ihre Kinder haben sich immer ein ganzes Leben lang lieb. Aber zwischen Männern und Frauen ist das anders.«
»Was ist daran anders? Wenn man jemanden lieb hat, dann hat man ihn lieb.«
»Ach, wie soll ich dir das nur erklären?« Sie fasste ihn bei den Schultern und sah ihn fest an. »Magst du Monsieur de Malesherbes denn gar nicht leiden?«
»Doch. Er ist immer sehr nett zu mir. Aber – ich will nicht zwei Väter haben.«
Sophie konnte ihm nicht länger in die Augen sehen. Sie hatte ja selber ein ungutes Gefühl. Alles sprach dafür, Malesherbes’ Vorschlag zu folgen, vor allem im Hinblick auf Dorvals Zukunft – nach einer Adoption würde er in den Adelsstand erhoben. Trotzdem schien ihr die Lösung irgendwie falsch. Malesherbes hatte ihre Not erkannt und ihr vorgeschlagen, Dorval selbst entscheiden zu lassen; sie müsse ihm nur Gelegenheit geben, sich von den Vorteilen einer Adoption selbstzu überzeugen. Aber wie sollte ihr das gelingen, wenn sie sich selbst nicht sicher war?
»Pass auf«, sagte sie schließlich, »ich will dir ein Märchen erzählen.«
»Ein Märchen?«, fragte Dorval verwundert.
»Ja, hör zu!« Sie setzte sich auf einen Stuhl und griff nach seiner Hand. Während er sie ihr widerwillig überließ, begann sie zu erzählen: »Es war einmal, vor vielen, vielen Jahren irgendwo im Morgenland ein armer Bettlerjunge. Der
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