Die Philosophin
desgleichen auch amtlich bedingte Rücksichtnahmen, zu denen ich mich bislang genötigt sah, stelle ich dazu heute richtig: Das Kirchenarchiv von Beaulieu ist nicht, wie seinerzeit von mir behauptet, durch eine Feuersbrunst zerstört worden; vielmehr hatte ich freien Zugang zu demselben und vollständige Einsicht in die Prozessakten zum Fall der Madeleine Volland. Ich habe alles notwendige Material gelesen und sichergestellt und bin folglich imstande, den Mann, der mit seiner Klage und in Sonderheit mit seiner Aussage vor Gericht das Verfahren mit dem bekannten Ausgang maßgeblich beeinflusst hat, zweifelsfrei und eindeutig zu identifizieren …
Als Sophie den Namen las, fasste sie sich entsetzt an den Hals. Glatt und kalt wie der Tod fühlte sich der geschnitzte Engel an, während sie den Brief, am ganzen Körper zitternd, zu Ende las, bis zur Unterschrift, mit der der Absender gezeichnet hatte:
Antoine de Sartine, Polizeipräfekt von Paris.
10
Es war bereits später Abend, als Sophie bei Malesherbes in der Rue Vivienne erschien. Sie fand ihn in seinem Kabinett am Fenster. Er war so tief in den Anblick der Dunkelheit versunken, dass er ihre Ankunft nicht bemerkte.
»So nachdenklich, Monsieur?«, sagte sie und stellte die große Pappschachtel, die sie aus Versailles für ihn mitgebrachthatte, auf seinem Schreibtisch ab. »Welchen Grund zu grübeln könnte der Favorit der Favoritin haben?«
»Einmal mehr stelle ich fest, wie gut Sie mich kennen«, erwiderte Malesherbes mit einem Lächeln und verließ das Fenster, um sie zu begrüßen.
»Wenn ich Sie schon durchschaut habe«, sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen, »darf ich mich dann nach dem Gegenstand Ihrer Betrachtung erkundigen? Soweit ich sehe, ist der Himmel bedeckt. Die Sterne können es also nicht gewesen sein.«
»Leider muss ich Ihnen ein zweites Mal Recht geben«, antwortete er ernst. »Ich habe gerade darüber nachgedacht, ob die Ernennung Sartines vielleicht ein Fehler war.«
»Hegen Sie Zweifel an Ihrer Entscheidung? Letzte Woche lobten Sie den neuen Präfekten noch in den höchsten Tönen. Wie soll ich mir diesen Meinungsumschwung erklären?«
»Ich sah Sartine vorgestern in Notre-Dame. Pater Radominsky las die Messe. Ich hatte den Eindruck, dass der Generalleutnant tatsächlich an Gott glaubt.«
»Was ist daran zu tadeln?«
»Normalerweise nichts. Aber ich bin mir nicht sicher, ob dies auch für einen Polizeisoldaten gilt. Wer sich seines Gottes allzu sicher weiß, nimmt gewöhnlich wenig Rücksicht auf die Menschen. Vom Glaubenseifer zur Barbarei ist es nur ein Schritt.«
Sophie runzelte die Brauen. »Haben Sie Grund, einen Polizeibeamten zu fürchten? So pessimistisch kenne ich Sie gar nicht.«
»Sie haben Recht, meine Liebste – was sollen die trüben Gedanken? Dorvals Glück ist Sartines Ernennung allemal wert,bedeutet es doch das Glück seiner Mutter. Aber Sie haben etwas mitgebracht? Für mich?«
»Allerdings, Monsieur. Packen Sie nur aus!«
»Ein Geschenk? Ohne Anlass? Wie reizend«, sagte er und öffnete die Schachtel. Plötzlich wurde sein Gesicht starr, und seine Stimme stockte. »Was … was für eine Überraschung …«
Er hielt sein Geschenk in der Hand: ein schwarzer breitkrempiger Hut, der mit einem roten Federbusch verziert war.
»Was haben Sie, Monsieur? Gefällt er Ihnen etwa nicht?«
»Doch, doch … natürlich«, stammelte Malesherbes, während er den Hut mit ausgestreckten Armen vor sich hielt, ohne ihn zu betrachten. »Nur vielleicht … wie soll ich sagen … ist er nicht ein wenig aus der Mode?«
»Was zählt schon die Mode? Die Mode ändert sich, die Gesichter bleiben – Hauptsache, er steht Ihnen! Worauf warten Sie? Probieren Sie ihn an!« Als er immer noch zögerte, nahm sie ihm den Hut aus den Händen und setzte ihn auf seinen Kopf.
Sie schloss für eine Sekunde die Augen und holte tief Luft, bevor sie den Blick hob. Dann sah sie ihn an. Unter der schwarzen Krempe wirkte Malesherbes’ Gesicht so bleich wie Kalk. Es war, als stünde ein Geist vor ihr, aufgetaucht aus der Tiefe der Zeit. Sie spürte, wie sich ihr die Kehle zuschnürte. »O mein Gott«, flüsterte sie.
Malesherbes rührte sich nicht. Seine Miene war wie versteinert: Auch er schien zu wissen, was ihr Geschenk bedeutete. Aus seinen grauen Augen sprach jene unentrinnbare Verzweiflung, in die ein Mensch sich nur selber stürzen kann. Mit so langsamen Bewegungen, als geschehe es in einem Traum, nahm er den Hut ab und ließ
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