Die Philosophin
nur noch Empfindungen der Dankbarkeit und der allerreinsten Anhänglichkeit zu hegen. Um den Eindruck zu vermeiden, mit einer Parteinahme für den Orden einen neuen Glaubenskrieg in Frankreich entfesseln zu wollen, hatte Papst Klemens befohlen, den Generaloberen der Gesellschaft Jesu in die Engelsburg zu stecken. Radominsky hatte sich daraufhin gezwungen gesehen, Ignatius von Loyola offiziell abzuschwören – seine einzige Chance, weiter als Beichtvater der Königin im Amt zu bleiben. Sartine bewunderte, wie ruhig und gelassen der Pater sich in sein Schicksal fügte, ohne den heiligen Kampf darum verloren zu geben.
»Wie harmlos diese Bilder wirken«, sagte Radominsky und blätterte weiter in dem Buch. »Dabei sind sie ein Teil des Täuschungsmanövers. Malesherbes erlaubt ihren Druck und duldet damit stillschweigend die Fortsetzung des Werks. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die nächsten Textbände erscheinen, mit neuen Ketzereien und Appellen zum Aufruhr.«
»Leider kann ich Ihnen nicht widersprechen«, sagte Sartine.
»Solange der oberste Zensor persönlich die Philosophen vor dem Zugriff des Staates schützt, wird es sehr schwierig sein, etwas zu unternehmen. Gerade erst hat Malesherbes dafür gesorgt, dass Rousseau meinen Leuten entwischen konnte, obwohl sie einen Haftbefehl hatten, um ihn wegen seines jüngsten Romans festzunehmen.«
»Sie meinen den
Emile?
« Radominsky verzog angewidert das Gesicht. »Das Loblied auf das prächtige Tier! Die Leugnung des Bösen! Als wäre der Mensch von Natur aus gut!«
»Aus der Feder eines Mannes, der seine Kinder ins Findelhaus gebracht hat! Über solches Gesindel hält der Zensor seine Hand.«
»Malesherbes muss weg!« Radominsky klappte das Buch zu und stand auf. »Vorher gibt es keine Ruhe. Aber wie sollen wir diesen Judas entmachten?« Er trat ans Fenster und schaute hinaus. »Es fehlt die Handhabe. Als Sohn des Kanzlers und Vertrauter der Pompadour ist er unangreifbar.«
Sartine ließ die letzten Worte eine Weile im Raum schweben, bevor er etwas erwiderte.
»Nicht ganz«, sagte er dann.
»Wie bitte?«
Radominsky fuhr herum und blickte den Polizeipräfekten verwundert an. Sartine hatte sich zurückgelehnt und glitt mit den Fingern über die Enden seiner Koteletten.
»Vielleicht habe ich eine Idee …«
9
Die »kleine« Post zirkulierte im Unterschied zur »großen« ausschließlich innerhalb der Stadt sowie zwischen der Stadt und dem Hof von Versailles. Von früh bis spät waren täglich ihre Boten unterwegs, um Tausende von Briefen zu befördern. Paris war eine Welt für sich. Briefe sparten viel Zeit, ersetzten manchen Besuch und verhinderten, dass man sich umsonst auf den Weg machte. Verabredungen wurden darum auf diese Weise ebenso getroffen wie Geschäfte vereinbart. Doch die »kleine« Post diente nicht nur der alltäglichenBequemlichkeit der Pariser Bevölkerung, sondern auch dem Austausch von Hoffnung und Verzweiflung, von Liebe und Eifersucht, Stolz und Hass. Und nicht selten geschah es, dass ein kleines, unscheinbares Billett das Leben eines Menschen von Grund auf veränderte.
Es war am frühen Vormittag, als Sophie ein solches Schreiben bekam. Ein Lakai Madame de Pompadours brachte es in ihr Appartement, während sie noch mit der Toilette beschäftigt war. Sie bürstete gerade ihr rotes Haar, und Dorval las ihr aus einem prachtvoll eingebundenen Buch vor, das sein Stiefvater ihm zum zehnten Geburtstag geschenkt hatte: die
Persischen Briefe
von Montesquieu.
Sophie wollte den Brief schon beiseite legen, da erkannte sie das Siegel der Stadt Paris. Nanu, was konnte das sein? Die akkurate, steile Handschrift auf dem Kuvert erfüllte sie mit Unbehagen. Sie schickte Dorval mit dem Auftrag hinaus, die Eselstute zu melken, und erbrach das Siegel.
Betrifft: der Fall »Madeleine Volland«
Madame
,
oben angeführter Fall, verhandelt im Jahre 1740 vor dem Landgericht Roanne, wurde von mir, neun Jahre nach Durchführung des Prozesses, in privatem Auftrag und Interesse untersucht. Gegenstand der Investigation, welche im Kirchspiel Beaulieu, Wohn- und Geburtsort besagter Madeleine Volland, erfolgte, waren Hintergründe und Motive des Verfahrens, welches zur Verurteilung und anschließenden Hinrichtung der Angeklagten führten.
Äußere Umstände, unser beiderseitiges Verhältnis betreffend, haben mir damals nicht erlaubt, Ihnen die Ergebnisse meiner Untersuchung mitzuteilen. Da diese Umstände inzwischen ihre Gültigkeitverloren haben,
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