Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
Vom Netzwerk:
Fensterscheibe.
    Der lange Gang schien Sophie so öde und kalt wie die Zeit, die ihr noch zu leben blieb.

11
     
    Am fünften Oktober des Jahres 1763 suchte Chrétien de Malesherbes seinen Vater auf, den Kanzler des französischen Königreichs, um seinen Abschied als Direktor der königlichen Hofbibliothek und oberster Zensor des Landes einzureichen.
    Mit einer Stimme, die jeden Widerspruch ausschloss, erklärte er: »Ich sehe keine Möglichkeit, weiterhin mein Amt in der Weise auszufüllen, wie es mir angemessen erscheint. Ich bitte Sie darum, mich von meinen Pflichten zu entbinden.«
    »Hat Ihr Entschluss seinen Grund darin, dass ich beim König in Ungnade gefallen bin?«, fragte sein Vater, von dem es hieß, Ludwig wolle ihn in Bälde ablösen.
    »Diese Tatsache hat mir die Entscheidung gewiss erleichtert, Monsieur, doch die Ursache war sie nicht.«
    »Nun, auch ich werde mein Amt niederlegen, bevor man mich dazu zwingt. Seine Majestät hört nicht mehr auf meinen Rat, meine Zeit ist abgelaufen. Eine neue Welt entsteht, die sich meinem Begreifen entzieht. Doch ich fürchte, sie wird grausame Rache an der alten nehmen.«
    »Daran besteht kein Zweifel«, erwiderte Malesherbes. »Ich fürchte allerdings, die Gegenwehr der alten Welt wird nicht weniger grausam sein.«
    Die Demission der beiden Staatsmänner erfolgte fast unbemerkt vom Hof in Versailles. Denn die Ablösung wurde überschattet von einem Ereignis, das sich in den vergangenen Monaten wie ein Trauerflor über den Königspalast gesenkt hatte. Madame de Pompadour, die Frau, die länger als jede andere Mätresse zuvor die Gunst des Königs genossen hatte,ihm Stütze und Ratgeberin in der Ausübung seines von Gott gewollten Amtes wie auch in seinen allerprivatesten Belangen gewesen war – diese Frau lag im Sterben. Schon in ihrer Jugend, als sie noch den Namen Jeanne-Antoinette Poisson trug, hatte sie bisweilen Blut gespuckt und auch später zur Zeit ihrer Ehe mit Monsieur d’Etioles. Doch hatte sie sich immer wieder von diesen Anschlägen auf ihren Körper und ihr Glück erholt, weil sie nicht bereit war, vom bunten Glanz des Lebens zu lassen. Diesmal aber, das spürte sie mit sicherem Instinkt, ging es auf das Ende zu. Trotz der Eselsmilchkuren, die ihr als einzige Arznei ein wenig halfen, hatte die unausgesetzte fieberhafte Anspannung, unter der sie all die Jahre am Hofe gestanden hatte, Tag für Tag, Stunde um Stunde, ihren kränklichen, der Ruhe und Schonung bedürftigen Leib so überanstrengt, dass sie kein Mittel zur Gegenwehr mehr besaß. Entkräftet von zahllosen Erkältungen, Fieberschüben und Schröpfkuren, zudem geschwächt durch eine beträchtliche Zahl von Fehlgeburten, war ihre einst so wunderbare Gestalt bis auf die Knochen abgemagert. Sie hatte keinen Busen mehr, und ihre ehemals makellose Haut, die das Bildnis des Hofmalers La Tour einmal so vorteilhaft zur Geltung gebracht hatte, als könne ihre Schönheit niemals vergehen, hatte sich unter all dem Puder und Rouge längst gelblich verfärbt, war vertrocknet wie ein Laubblatt, das vor der Zeit von einem verdorrten Zweig herabfällt und vom Wind davongetragen wird.
    Ludwig besuchte seine einstige Favoritin fast täglich für einige Minuten am Krankenbett. Aus Dankbarkeit für ihre zahlreichen Verdienste hatte er ihr erlaubt, im königlichen Palast zu sterben, wo nach der Etikette eigentlich nur Prinzen und Prinzessinnen den Tod erwarten durften – eine offizielleAuszeichnung für die
amie du roi
, die noch keiner Mätresse eines französischen Königs zuteil geworden war. In ihrer alten Bibliothek hatte man für sie ein Lager aufgeschlagen. Die Bücher waren ihre letzte Zuflucht. Zeit ihres Lebens hatten sie ihr geholfen, ihre Erziehung zu vervollkommnen, hatten ihr als Waffen gegen ihre vielen Neider und Feinde gedient. Sie waren ihre Ratgeber und Wegweiser gewesen, in Fragen der Kriegsführung ebenso wie in Fragen der Liebe; sie hatten ihr stets die richtigen Worte geliefert, ihr die nötigen Kenntnisse über gegenwärtige und vergangene Ereignisse vermittelt und sie in den Stand gesetzt, ohne Peinlichkeit über Malerei und Philosophie, über die Kunst des Tanzes und die Kunst der Politik zu sprechen. Die Bücher hatten ihr alles gegeben, was sie im Leben einst gebraucht hatte. Jetzt halfen sie ihr, aus dem Leben zu scheiden.
    Während die Fieberschübe immer rascher aufeinander folgten, wurde sie von einer Frage gequält: Hatte sie ihr Ziel erreicht, sich in der Geschichte einen Platz

Weitere Kostenlose Bücher