Die Philosophin
tiefe, dunkle Traurigkeit auf ihrem Antlitz und ihrer Seele zu verbergen, dass sie wie eine Puppe aussah. Man munkelte am Hof, sie leide an Schwindsucht und ihre Tage als Ludwigs Favoritin seien gezählt. Alle Welt wusste, Demoiselle Ronan, die Tochter eines Advokaten aus Grenoble, machte ihr den Platz im Herzen des Königs streitig. Dieses Mal handelte es sich nicht um eine der vielen Hirschgrabenaventüren, welche die Pompadour unbeschadet ließen, weil sie das Herz des Königs nicht berührten, dieses Mal war wirkliche Liebe im Spiel. Demoiselle Ronan hatte das längste schwarze Haar, das man sich nur vorstellen konnte – so lang, dass sie damit ihren nackten, wollüstigen Leib wie mit einem Schleier umhüllte, wenn sie sich mit orientalischer Trägheit vor Ludwigsbegehrlichen Blicken auf ihrem Kanapee räkelte. Doch nicht allein diese Reize machten die neue Dame seines Herzens so gefährlich; sie besaß ein Faustpfand, das der Marquise in all den Jahren versagt geblieben war: Sie hatte einen Sohn, den der König von Frankreich anerkannte.
»Zufrieden, Madame?«, fragte der Friseur und trat einen Schritt zurück, um sein Werk zu betrachten, wobei er die Finger seiner erhobenen Hände wie Scheren spreizte.
»Deine Kunst hilft kaum mehr als meine Eselsmilch – aber sei’s drum.« Die Pompadour warf einen letzten Blick in den Spiegel, dann drehte sie sich zu Sophie herum. »Ist das der Brief, von dem du eben gesprochen hast?«
Sie nahm ihr das Schreiben aus der Hand und überflog die wenigen Zeilen.
»Das übliche Ritual«, sagte sie, als sie zu Ende gelesen hatte.
»Der einzige Grund, den die Kirche zur Auflösung der Ehe gelten lässt. Ich hoffe nur«, fügte sie mit einem matten Lächeln hinzu und gab ihr den Brief zurück, »dass er nicht der Wahrheit entspricht.«
Sophie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss.
»Was ist mit dir? Du bist ja plötzlich ganz konfus.« Die Pompadour runzelte die Stirn. »Soll das etwa heißen, dass …?« Sie brauchte den Satz nicht zu Ende zu sprechen, um zu begreifen, dass ihre gedankenlos dahingeworfene Bemerkung der bitteren Wahrheit entsprach. Mit einer Kopfbewegung schickte sie den Friseur hinaus.
»Ihr habt eure Ehe also nie vollzogen?«, sagte sie, nachdem der Figaro seinen Toilettenwagen hinausgerollt hatte.
Sophie nickte. »Sartine hat mich kein einziges Mal berührt.«
Die Stirnfalten der Pompadour wurden noch tiefer. »Wennein Mann bei einer so hübschen Frau wie dir auf diesen Genuss verzichtet, kann es dafür nur einen Grund geben.«
»Sartine hat gesagt, er wolle mich nicht drängen. Er meinte, für ihn zähle nur die Liebe. Ich habe ihn nie verstanden.«
»Du armes Kind«, sagte die Pompadour. »Ich weiß, was du durchgemacht hast. Mein erster Mann, Monsieur d’Etioles, schmückt sich zwar heute noch mit ganzen Scharen hübscher Schauspielerinnen und Grisetten, in Wahrheit aber … Nun, wie auch immer, seitdem weiß ich, dass die Liebe nichts weiter ist als ein Hirngespinst. Sie hängt allein von der Einbildungskraft ab.«
»Was hat die Einbildungskraft mit der Liebe zu tun?«
»Der Zusammenhang ist wissenschaftlich erwiesen.« Die Pompadour griff nach einem Exemplar der Enzyklopädie, das auf ihrer Frisierkommode stand, und schlug den Band auf.
»Hast du nicht den Artikel ›Erektion‹ gelesen? Nein? Dann hör zu: ›Mit diesem Begriff bezeichnet man den Zustand des männlichen Glieds, in dem es nicht herabhängt, sondern sich von selbst aufgerichtet hält, weil die Schwellkörper, aus denen es besteht, mit Blut gefüllt und gestrafft sind. In diesen Zustand geht es infolge der Einbildungskraft über, die durch die Vorstellung oder den tatsächlichen Anblick der Gegenstände erhitzt wird, welche geeignet sind, die venerische Begierde zu wecken. Auf diese Weise wird zugleich verhindert, dass das Blut, das von den Arterien in die Höhlen oder Zellen fließt, durch die Venen zurückströmt …‹«
Während die Pompadour vorlas, dämmerte Sophie das Geheimnis ihrer Ehe. Sie hatte Sartines Glied weder zu sehen noch zu spüren bekommen – nie hatte es sich in ihrer Gegenwart aufgerichtet, auch nicht des Nachts, wenn sie Seite an Seite im Bett lagen, ohne Schlaf zu finden … Ihr Mann warnicht imstande gewesen, die Ehe zu vollziehen – das war die Wahrheit, die sich hinter ihrer seltsamen Lebensgemeinschaft verbarg, der Grund, warum er sie in all den Jahren ihres Zusammenlebens niemals berührt hatte. Auf einmal tat Sartine ihr unendlich
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