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Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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ihn zu Boden fallen.
    »Ich hatte immer gefürchtet, dass dieser Moment eines Tages kommen würde«, sagte er mit tonloser Stimme. »Die Angst davor hat mich jede Minute unseres Zusammenseins verfolgt. Und doch habe ich immer gehofft, der Kelch würde an mir vorübergehen. Wer … wer hat Ihnen mein Geheimnis verraten? – Sartine?«
    Sophie nickte, kaum fähig zu sprechen. Ihre ganze Vergangenheit, die sie so lange Jahre tot geglaubt hatte, war wieder da, verkörpert in diesem Mann. Und noch schmerzhafter als die Erinnerung war das Begreifen: Darum diese seltsamen Blicke, mit denen Malesherbes sie so oft angeschaut hatte, als suche er in ihrem Gesicht nach etwas, wovon er selbst nicht wusste, was es war, wie nach einer Spur; darum seine Fürsorge für ihren Sohn, als wolle er Dorval für etwas entschädigen, was das Schicksal dem Jungen vorenthalten hatte; darum seine Tränen bei der Hinrichtung Damiens’, sein Mitgefühl, sein Verstehen, seine Anteilnahme – an allem, was auf ihr lastete und sie quälte.
    Sophie sah der Wahrheit ins Gesicht. Nein, es gab keinen Zweifel mehr. Sie hatte das Bett mit dem Mann geteilt, der ihre Mutter auf dem Gewissen hatte.
    »Warum?«, flüsterte sie. »Warum?«
    »Ich habe sie geliebt … Ich wollte ihr mein ganzes Leben schenken, ihr alles zu Füßen legen, was ich hatte und besaß …«
    »Deshalb musste meine Mutter sterben?«
    »Sie hat mich abgewiesen … Sie erwiderte meine Gefühle nicht. Sie hat mich ausgelacht, mich zur Hölle gewünscht … Ich war wie von Sinnen …«
    »Was haben Sie vor Gericht gesagt?«
    »Ich … ich habe behauptet, sie hätte mich vergiftet, miteinem Kräutertrank … Ich war so jung, ich sah nur die Zurückweisung, die Verletzung meiner Ehre, als Mann …«
    Er verstummte, hilflos und beschämt, den Blick zu Boden gerichtet, während seine Worte wie Luftblasen zerplatzten, die vom Grund eines schwarzen, brackigen Teichs an die Oberfläche aufgestiegen waren, um sich in ein fauliges Nichts aufzulösen. Als er die Augen wieder zu ihr aufschlug, sah er sie so flehentlich an, als könne nur sie ihn aus seiner Verzweiflung erlösen.
    »Sie haben«, sagte Sophie, »den Aberglauben der Menschen missbraucht, ihre Unwissenheit, die Gesetze, alles, um meine Mutter auf den Scheiterhaufen zu bringen? Nur weil sie Ihre Gefühle verletzt hatte, Ihren Stolz, Ihre Eitelkeit …«
    Die Stimme versagte ihr. Es war so erbärmlich, dass es nicht zu ertragen war. Ihr ganzer Körper krampfte sich zusammen – sie spürte jede Faser ihres Leibes. Plötzlich war ihr so übel wie am Tag ihrer Erstkommunion. Fast glaubte sie, erbrechen zu müssen.
    Nur eine Frage hatte sie noch, obwohl sie die Antwort schon wusste. Doch sie musste sie von ihm selber hören.
    »Haben Sie mir deshalb die ganze Zeit geholfen?«
    Malesherbes nickte. »Deshalb – und weil ich Sie …«
    »Weil Sie was?«
    Er schlug die Augen nieder. »Es ist mir nicht möglich, dieses Wort auszusprechen. Nicht hier und jetzt.«
    Sophie ahnte, was er meinte. »Und hast du deshalb Diderot gewarnt?«, fragte sie weiter, obwohl sie vor Ekel und Abscheu kaum noch die Lippen bewegen konnte. »Hast du deshalb die Enzyklopädie beschützt?«
    »Wie sehr habe ich mich nach diesem Du aus Ihrem Mundgesehnt«, flüsterte er. »Jetzt, da Sie dieses Wort an mich richten, ist es mein Todesurteil.«
    »Warum hast du es getan?«, insistierte sie. »Aus schlechtem Gewissen, aus Reue? Um dein Verbrechen wieder gutzumachen?«
    Er blickte sie an. Sein Gesicht zuckte vor Erniedrigung und Scham, als er endlich sprach: »Ich habe versucht, das Schicksal zu korrigieren. Aber … es war ein schrecklicher Irrtum. Niemand kann das Schicksal korrigieren … Das Schicksal ist stärker.«
    Eine lange Weile schaute sie ihn an, sprachlos angesichts des Abgrunds, der sich vor ihr aufgetan hatte. Sie wollte noch etwas sagen, aber sie hatte keine Worte mehr.
    Er versuchte zu lächeln, streckte die Hand nach ihr aus. Sein Gesicht war nur noch eine Grimasse, darin zwei graue Augen, aus denen alles Leben gewichen war.
    Wie hatte sie diesen Mann geachtet! Wie dankbar war sie ihm gewesen! Jetzt aber, da sie die Wahrheit kannte, hatte sie nur noch das Bedürfnis, ihm ins Gesicht zu spucken. Warum tat sie es nicht? Ohne ein weiteres Wort machte sie kehrt und verließ den Raum.
    Der marmorverkleidete Korridor war menschenleer, nur ein verirrter Nachtvogel flatterte durch die Luft und flog im Schein der Kronleuchter immer wieder gegen eine

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