Die Philosophin
fast mehr als ihre grünen Augen, und für einen Moment überließ er sich der beglückenden Vorstellung, dass sie vielleicht eines Tages allein für ihn so tüchtig walten und schalten würde wie hier und jetzt für ihre Gäste. Wer weiß, vielleicht würde sie sich ja mit den bescheidenen Annehmlichkeiten begnügen, die Antoine Sartine einem Eheweib zu bieten hatte, ein sicheres Auskommen und ein Heim, ohne nach jenen Nebendingen zu verlangen, die gewöhnliche Frauen so oft mit der Glückseligkeit verwechselten. Ob er heute wohl Gelegenheit fand, einmal in Ruhe mit ihr zu sprechen?
Am Nebentisch wurden Stimmen laut. Obwohl es ihm schwer fiel, wandte Sartine den Blick von Sophie ab, um seine Aufmerksamkeit den Amtsgeschäften zu widmen. Unauffällig blickte er zu seinen Nachbarn hinüber. Der Verleger Le Bréton, ein Mann wie ein Walross, saß dort in Gesellschaft dreier Schreiberlinge, die Sartine bislang nur dem Aussehen und Namen nach kannte. Sein geschultes Gehör filtrierte ihr Gespräch so klar und deutlich aus dem Stimmengewirr heraus, dass er fast jede Silbe verstand. Es ging um Gott und die Welt, und das Wort führte Denis Diderot.
»Beichten, wozu soll ich beichten?«, rief er. »Um ein Stück Brot zu essen, das man Leib des Herrn nennt?«
»Ein geistreicher Bursche«, notierte der Kriminalleutnant in seiner ordentlichen Handschrift und beschloss, künftig ein Auge auf ihn zu haben. »Renommiert mit seiner Unfrömmigkeit. Spricht verächtlich von den heiligen Mysterien.«
»Nanana«, erwiderte der Verleger am Nebentisch. »An Ihrer Stelle, Diderot, wüsste ich schon einen Grund, um zu beichten. Einen außerordentlich hübschen Grund. Fängt mit P an, genauso wie der hübsche Popo der Dame.«
Sartine runzelte die Brauen. Nach den Gotteslästerungen kam man nun auf die weltlichen Dinge zu sprechen. In ihren Weibergeschichten suhlten sich die Philosophen noch lieber als in der Verunglimpfung von Kirche und Staat. Wer sie reden hörte, musste glauben, der Weg zur Unsterblichkeit führe unweigerlich über die Sünden des Fleisches. Doch wer war mit P gemeint? Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.
»Hat Madame de Puisieux als Mätresse«, fügte Sartine seinem Dossier hinzu, als er den Namen vernahm, und schüttelte den Kopf. Er kannte die Person. Die Puisieux war eine Übersetzerin, die ihre Liebhaber öfter wechselte als ihre Schreibfedern. Diderots Karriere, daran hatte Sartine jetzt kaum noch Zweifel, würde einer Flugbahn folgen, die von der Giebelstube geradewegs in die Gosse führte, mit Zwischenlandung in der Bastille. Sein vorläufiges Urteil fasste er in zwei Worten zusammen: »Äußerst gefährlich!«
Dann verschwand Antoine Sartine wieder hinter seiner Zeitung und spitzte die Ohren.
4
»Ich will die Seelen der Menschen anrühren, sie zum Lachen und Weinen bringen, sie aufklären und wachrütteln – alles, was man mit Büchern vermag!«
Diderot redete mit solcher Begeisterung, dass er weder das Kneifen seines engen grauen Rocks noch das Kratzen seiner schwarzen Wollstrümpfe spürte. In seinem Leben gab es zwei Leidenschaften: die Frauen und die Literatur, und wenn er mit einer von beiden beschäftigt war, existierte nichts anderes für ihn auf dieser Welt – weder die Geldnot, die ihn wie sein eigener Schatten verfolgte, sodass er oft nicht wusste, wovon er das nächste Tintenfass oder die nächste Tasse Schokolade bezahlen sollte, noch die Spitzel der Polizei, die sich im Café »Procope« eingenistet hatten wie Flöhe in einer alten Perücke. »Ich will die Menschen zeigen, wie sie lieben und leiden, wie sie ihr Leben wagen für die Abenteuer des Geistes. Ich will ihre Größe und Erhabenheit schildern, die Kraft ihrer Gefühle und die Flut ihrer Gedanken, die Stürme ihrer Empfindungen und die Reinheit ihrer Ideen. Ich will die Nebel verjagen, die noch in ihren Köpfen wabern, Vorurteile und Wahnvorstellungen – was immer den freien Geist unterjocht, der selbst zu denken wagt und nur akzeptiert, was ihm Erfahrung und Vernunft bezeugen.«
»Und
davon
wollen Sie leben?«, fragte Le Bréton fast mitleidig und legte seine fette weiße Hand auf Diderots Arm. »Davon und vor allem
dafür!«
Es entstand eine Pause. Der Verleger kniff die Augen zusammen, sodass sie zwischen den Wülsten seines Gesichts beinahe verschwanden, während er Diderot fixierte.
»Ich glaube«, sagte er schließlich, »dann habe ich was für Sie. Ein englisches Wörterbuch, die
Cyclopedia
von Chambers.
Weitere Kostenlose Bücher