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Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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zeigt, wie es sein kann und sein soll. Ein Buch wie das Buch der Bücher, ein Buch wie die Bibel, ein wirklich neues Testament für eine neue Zeit!«
    »Oho«, wunderte sich Le Bréton, »werden wir jetzt plötzlich fromm?«
    »Ja, ein Buch wie die Bibel«, wiederholte Diderot, »und zugleich das genaue Gegenteil. Eine heilige Schrift des irdischen Lebens, ein Kompendium menschlicher Glückseligkeit.« Er ballte die Fäuste, während er sprach. »Nach denLehren der alten Bibel haben die Menschen achtzehnhun-dertsiebenundvierzig Jahre in einem irdischen Jammertal dahinvegetiert, um sich mit der Aussicht auf ein besseres Jenseits zu trösten. Es wird Zeit, eine neue Bibel zu schreiben, ein Buch, mit dessen Hilfe die Menschen sich eine neue Welt erschaffen, in der sie ihr Glück suchen und finden, hier im Diesseits schon, ein Paradies auf Erden.«
    »Psssst«, machte d’Alembert und schaute sich ängstlich um.
    »Es wäre klüger, wir würden das Thema wechseln.« Um seine fleischigen Lippen spielte ein bitteres Lächeln, während seine braunen Augen, die bei Diderots Rede ruhelos durch das Lokal gewandert waren, sich beschwörend auf den Verleger richteten.
    Doch Le Bréton achtete nicht auf ihn. »Meinen Sie das wirklich im Ernst, Diderot? Ein Buch mit dem ganzen Wissen der Menschheit?«
    »Ja«, erwiderte Diderot. »Eine Enzyklopädie, die alle auf dieser Erde verstreuten Kenntnisse vereint, um sie allen Menschen zu überliefern, die nach uns kommen. Damit die Arbeit der vergangenen Jahrhunderte und Jahrtausende nicht nutzlos war. Damit unsere Kinder und Enkel nicht nur gebildeter, sondern auch glücklicher werden. Und damit wir nicht sterben, ohne uns um die Menschheit verdient gemacht zu haben.«
    Er verstummte. Überall am Körper spürte Diderot seine Kleider zwicken und kneifen, jucken und kratzen, als Le Bréton seinen Blick erwiderte. Was ging in dem Walross vor? Der ganze Fleischberg schien zu kreißen, als koste es ihn übermenschliche Kraft, eine Antwort zu gebären, während er immer wieder über die Enden seines Schnauzbarts strich, das Gesicht in tausend Falten gelegt, schniefend und schnaufend mit jeder Faser seines gewaltigen Leibes.
    »Sie wissen, dass dies die größte Aufgabe ist, die sich je ein Schriftsteller gestellt hat?«, fragte er schließlich.
    Diderot nickte. Le Bréton schloss die Augen und stieß einen Seufzer aus. »Dann bleibt mir wohl nichts übrig, als mich in mein Schicksal zu fügen. Auf die Gefahr hin, dass Sie mich ruinieren, Diderot – doch große Geschäfte macht man nur mit großen Ideen!« Ein Leuchten überzog sein Gesicht, als ginge die Sonne über einem Gebirge auf. »Wenn Sie Recht behalten, werde ich mich nur noch in einer Sänfte durch Paris tragen lassen. Wenn nicht – Pistolen!« Er hob die Hand, schnippte mit den Fingern und rief: »Bedienung – Champagner!«

5
     
    Vom Turm der alten Abteikirche Saint-Germain-des-Prés schlug es schon Mitternacht, doch Sophie fand noch keine Ruhe. Das Miauen eines verliebten Katers, der einsam über die Dächer strich, drang durch das offene Fenster ihrer Kammer, zusammen mit dem ewigen Gestank der Dachtraufen, die manche Bewohner der Mansarde aus Bequemlichkeit als Aborte missbrauchten. Im Schein einer heruntergebrannten Kerze, deren Flamme mehr Finsternis als Helligkeit verströmte, saß sie über ihren Schatz gebeugt: ein Kästchen voller Buchstaben und Wörter. Alle Schriftstücke, die Sophie irgendwo fand, sammelte, glättete und restaurierte sie und bewahrte sie in diesem Schatzkästlein auf, das sie so sorgfältig wie die Geldkatze mit ihren wenigen Ersparnissen hütete, umes nach der Arbeit aus seinem Versteck zu holen und darin zu lesen: Notizzettel und Kochrezepte, alte Rechnungen und Inventarlisten, Theaterbilletts und Flugschriften, vergilbte Zeitungen und Plakatanschläge, ein Gebetbuch, vor allem aber handgeschriebene Manuskriptblätter mit Romananfängen, Theaterszenen und Gedichten, die ihre Gäste im Kaffeehaus zurückgelassen hatten wie ungeliebte Kinder, zerknüllt und manche sogar zerrissen. Dabei verriegelte sie stets die Tür, aus Angst, es könne sie jemand bei dieser heimlichen Tätigkeit überraschen. Niemand durfte wissen, dass sie lesen konnte – davor hatte sie Angst wie vor dem Jüngsten Gericht.
    Sophie öffnete das Kästchen mit klopfendem Herzen und gleichzeitig schlechtem Gewissen, als würde sie eine Sünde begehen. Sie verachtete sich für ihre Willenlosigkeit, so wie sie früher in der

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