Die Philosophin
Verantwortung für den Inhalt der Verfügungen trage.
Betreten schlug Sophie die Augen nieder. Was für ein widerliches Spektakel! Während die Parteien übereinander herfielen wie eine Horde armenischer Straßenhändler, verschiedene Versionen des Testaments zitierten, anfochten, alte und neue Fassungen scheinbar nach Belieben präsentierten, interpretierten, korrigierten, als gäbe es keine verbindliche Wahrheit, wie der letzte Wille der Verstorbenen zu verstehen sei, als wäre die gültige Wahrheit nichts anderes als das jeweils letzte hingekritzelte Wort von ihrer Hand, hoffte Sophie nur, dass das unwürdige Schauspiel bald ein Ende hätte. Sie hörte gar nicht mehr zu, versuchte, während sie nervös mit ihrem Armband spielte, ihre Gedanken auf andere Gegenstände zu richten, auf künftige Besorgungen zur Einrichtung ihres Hauses, nur um sich abzulenken – da hatte sie plötzlich das Gefühl, ihre verstorbene Freundin würde zu ihr sprechen. Obwohl es doch unmöglich sein konnte, ganz und gar Unsinn war, sich jeder Vernunft und Erfahrung entzog, hörte sie die vertraute Stimme: »Und wenn jemand käme, der mit der Enzyklopädie genauso verführe?«
Die Stimme klang so deutlich und klar, als wäre die Marquise im Raum. Unwillkürlich schaute Sophie sich um. Was wollte ihre Freundin ihr sagen? Was hatte die Enzyklopädie mit der Testamentseröffnung zu tun? Doch dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Das Gefeilsche um sie her war der Schlüssel: Was den Menschen als Wahrheit galt, war immernur vorläufig, jede Wahrheit die Vorstufe einer anderen. Und diese Erkenntnis galt nicht nur für den letzten Willen eines Menschen, sie galt für jede Bekundung seines Willens, die er anderen Menschen hinterließ … Der Gedanke verschlug Sophie den Atem, so ungewöhnlich, so abenteuerlich, so ganz und gar verrückt schien er ihr. Und doch – wäre das nicht die Lösung? Ein Ausweg aus dem Labyrinth, um Diderot und sein Werk zu retten?
Sie schloss die Augen und sah das lächelnde Gesicht der Pompadour. Es war, als zwinkere ihre Freundin ihr aus dem Jenseits zu.
Ohne das Ende des Streits abzuwarten, verließ Sophie den Saal und machte sich auf den Weg. Endlich wusste sie, was sie zu tun hatte.
15
Land in Sicht!
Wie ein Kapitän auf der Brücke brüllte Le Bréton den Arbeitern die Kommandos zu, während das ganze Verlagshaus in seinen Fugen stöhnte und ächzte wie ein Schiff auf hoher See. Jeden Mann trieb er einzeln an, prüfte die Qualität der Abzüge, den Auftrag der Druckerschwärze, die Makellosigkeit des Papiers, verteilte hier ein Lob und dort einen Tadel, packte auch selber mit an, wenn ein Arm an der Druckpresse fehlte, damit die Enzyklopädie sicher in den Hafen einlief. Es durften jetzt keine Fehler mehr passieren, niemand war so kritisch wie der zahlende Kunde – es war ohnehin einWunder, dass die Abonnenten immer noch stillhielten nach all den falschen Versprechungen, die man ihnen im Verlauf von zwanzig Jahren über Preis und Umfang des Unternehmens gemacht hatte. Von acht Foliobänden mit Text und zweien mit Illustrationen war im Ankündigungsprospekt die Rede gewesen, für eine Gesamtsumme von zweihundertachtzig Livres. Inzwischen war das Werk auf siebzehn Text- und elf Tafelbände angewachsen, die jeden der viertausendzweihundertfünfzig Subskribenten sage und schreibe neunhundertvierundachtzig Livres kosteten.
Ja, die Enzyklopädie war das Geschäft seines Lebens geworden – der Hofalmanach, den Le Bréton nach wie vor als erster ordentlicher Buchdrucker des Königs jährlich herausbrachte, war nur ein Butterbrot im Vergleich dazu. Da die allermeisten Autoren ohne Honorar ihre Beiträge geschrieben hatten, belief sich der Gewinn auf über drei Millionen Livres. Wer hätte das je ahnen können? Am Anfang war es nur darum gegangen, ein simples englisches Wörterbuch ins Französische zu überetzen – bis Diderot mit seiner wunderbaren Idee gekommen war, etwas völlig Neues zu wagen. Mit dem Stock hatte Le Bréton den ursprünglich unter Vertrag genommenen Herausgeber davonprügeln müssen, um Platz zu schaffen für diesen so glorreichen Fortschritt.
Der Einsatz hatte sich wahrlich gelohnt. Le Bréton war ein reicher, mächtiger Mann, von Ministern geachtet und von Konkurrenten gefürchtet. Längst war er seiner bescheidenen Sänfte entstiegen und fuhr mit einer eigenen vierspännigen Kutsche durch die Stadt, um seine Geschäfte zu besorgen. Zufrieden nahm er die goldene Uhr, die er
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