Die Philosophin
beiwohnte, zu der sie der Notar der Marquise de Pompadour geladen hatte, war sie in ihren Gedanken immer noch bei Diderot.
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Die Kanzlei befand sich im Faubourg Saint-Honoré. In dem großen, eichengetäfelten Saal waren bei ihrer Ankunft schon einige Dutzend Hinterbliebene versammelt. Die meisten von ihnen kannte Sophie: ein paar Hofschranzen, ein paar Zofen, ein paar Kammerdiener; der Haushofmeister, der Portier und der Kellermeister; dazu namenlose Kutscher, Träger und Gärtner; Köche, Offiziere und Zureiter; Garderobenfrauen, Modistinnen und Hofmägde; außerdem natürlich Dr. Quesnayund Monsieur Poisson, der jüngere Bruder der Verstorbenen. Dieser hieß inzwischen Monsieur de Marigny und trug den Titel eines Marquis, doch an seiner Art hatte sich nichts geändert. Im Gegenteil: Statt sein Selbstbewusstsein zu festigen, hatte die neue Würde seine Schüchternheit geradezu ins Groteske gesteigert – am Hof kursierten die boshaftesten Spottverse über ihn. Anders als die meisten Anwesenden, die mit unverhohlener Gier dem Notar lauschten, ungeduldig darauf wartend, dass die Reihe endlich an sie kam, hörte er den Ausführungen schweigend zu, die Hände vor dem rundlichen Bauch gefaltet, um sich arglos und völlig ergeben in den letzten Willen seiner Schwester zu fügen.
»Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes! Ich, Jeanne-Antoinette Poisson, Marquise de Pompadour, an Gütern getrennte Gattin des Charles-Guillaume Le Normant d’Etioles, habe mein gegenwärtiges Testament und die Bestellung meines letzten Willens gemacht und geschrieben, von dem ich will, dass er in seinem vollen Umfang ausgeführt werde. Ich befehle meine Seele Gott, indem ich ihn anflehe, Mitleid mit mir zu haben und mir meine Sünden zu verzeihen, darauf hoffend, seiner Gerechtigkeit durch die Verdienste des kostbaren Blutes Jesu Christi, meines Heilands, und durch die mächtige Beihilfe der Heiligen Jungfrau sowie aller Heiligen des Paradieses teilhaftig zu werden …«
Mit näselnder Stimme trug der Notar die Verfügungen vor, Seite um Seite, Satz für Satz, monoton und gelangweilt wie ein Priester, der zum tausendsten Mal die Messe liest. Sophie schaute sich um: So vertraut ihr die Gesichter waren, in die sie blickte, so fremd erschienen sie ihr bereits jetzt, obwohl noch keine zwei Wochen vergangen waren, seit sie den Hof verlassen hatte. Plötzlich hörte sie ihren eigenen Namen.
»Ich hinterlasse Sophie Volland aus Dankbarkeit für ihre Anhänglichkeit an meine Person eine Pension von sechstausend Livres, meinem Arzt, Dr. Quesnay, viertausend Livres, Monsieur Lefèvre, meinem Zureiter, eintausendzweihundert Livres …«
Sophie holte tief Luft. Mit dieser Pension, das wusste sie, war sie bis an ihr Lebensende aller materiellen Sorgen frei. Sie konnte die Miete für ihr kleines Haus bezahlen, und Dorval würde es nie an etwas fehlen. Nur gut, dass die Adoption nicht rechtsgültig geworden war, bevor sie Malesherbes’ Geheimnis entdeckt hatte … Die neidvollen Blicke, die sich ihr für einen Moment zugewandt hatten, wanderten schon wieder weiter, um sich der Reihe nach auf jeden einzelnen Anwesenden zu richten, den die Pompadour in ihrem Testament bedacht hatte, bis schließlich alle Augen eine einzige Person anstarrten, die unter der übergroßen Aufmerksamkeit vor lauter Verlegenheit puterrot im Gesicht anlief.
»Was den Rest meiner Immobilien und Güter anbetrifft, von welcher Natur sie auch seien und an welchem Ort sie liegen mögen, so gebe und verleihe ich sie Abel-François Poisson, dem Marquis von Marigny, meinem Bruder, den ich zu meinem Universalerben mache und einsetze …«
Es folgten zahllose Zusatzerklärungen, mit denen die Pompadour auch die unscheinbarsten Güter ihres schier unermesslichen Besitzes, den sie im Laufe ihres Lebens angehäuft hatte, namentlich genannten Erben vermachte. Sogar ihre Haustiere – ein Papagei, ein Hund und ein Wickelschwanzaffe – waren einzeln aufgeführt; unter dem Gelächter der Anwesenden wurden sie dem Naturforscher Buffon zugesprochen. Für noch größere Unruhe sorgte aber ein ausführliches Kodizill, mit dem die Verstorbene einige der zuvor geäußertenVerfügungen wieder aufhob beziehungsweise korrigierte. In wenigen Augenblicken verwandelte sich der Saal in einen orientalischen Basar. Alles rief und protestierte durcheinander; man bestürmte den Notar, der immer wieder beteuerte, dass er nur den Willen der Verstorbenen verkünde und keinerlei
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