Die Philosophin
Buch versammelt war. Manche Texte kannte sie noch von früher, sie hatte ein paar vor Jahren selbst redigiert, einige wenige sogar selber verfasst. Die meisten aber trugen das Kürzel Jaucourts. Der Chevalier hatte mehr Artikel geschrieben als alle anderen Autoren, mehr sogar als Diderot.
Sophie nahm wahllos ein geheftetes Bündel von dem Stapel. Es war ein langer Artikel zum Stichwort »Toleranz«. Ihre Hand zitterte, als sie die erste Seite aufschlug. Wenn sie tat, was sie gerade im Begriff stand zu tun, würde sie nicht nur Diderots Werk zerstören, sondern für immer auch seine Liebe, sobald er von ihrem Eingriff erfuhr. Aber nicht einmal diese Angst konnte sie von ihrem Entschluss abbringen. Sie hatte keine Wahl; es war der einzige Ausweg, der blieb.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie sich überwand, mit ihrer schmerzhaften Arbeit zu beginnen. Sie wusste, was sie zu tun hatte. Ihr Vorgehen war mit Le Bréton genau abgesprochen. Er hatte ihr nur solche Beiträge gebracht, die Diderot bereits durchgesehen und handschriftlich mit der Freigabe zum Satz oder Druck versehen hatte. Mit gespannter Aufmerksamkeit begann sie zu lesen:
»Wie traurig ist doch die Aufgabe, den Menschen Wahrheiten beweisen zu müssen, die so klar sind, dass man seine Naturverloren haben muss, um sie nicht zu erkennen! Wenn es aber sogar in unserem Jahrhundert noch Menschen gibt, die ihre Augen der Evidenz und ihr Herz der Menschlichkeit verschließen, wie könnten wir dann in unserem Werk darüber feiges Stillschweigen wahren? …«
Zeile für Zeile, Absatz für Absatz, Seite für Seite las Sophie den Text. Als sie ans Ende gelangt war, nahm sie die Feder aus dem Tintenfass, und mit einem Seufzer strich sie ein Wort durch, das den Verfasser in Gefahr bringen konnte, dann ein zweites, ein drittes … Behutsam formulierte sie die Sätze um, alles prüfend, was ihr zu kühn oder sonst geeignet schien, Widerspruch und Verfolgung zu erregen, auch wenn die Worte ihr selber aus der Seele sprachen:
»Nein! Wo immer die Intoleranz herrscht, wird sie die Menschen gegeneinander bewaffnen. Wenn die Christen diejenigen, die ihre Ideen leugnen, nicht dulden wollen, so werden sich mit Recht die Völker gegen sie verbünden. Welchen Vorwurf könnten wir dann gegenüber einem Fürsten in Asien erheben, wenn er den ersten Missionar, den wir zu ihm schicken, aufhängen lässt?«
Allein dieser Absatz genügte, um den Autor in die Bastille und das Werk auf den Scheiterhaufen zu bringen. Sophie korrigierte und veränderte, stellte Argumente in ihrer Reihenfolge um, damit sie an Schärfe verloren, fügte woanders abschwächende Ergänzungen hinzu, um Provokationen zu vermeiden, verwandelte offene Behauptungen in versteckte Anspielungen, entschiedene Thesen in zögerliche Fragen. Manchmal war sie gezwungen, ganze Satzfolgen auszumerzen. Immer länger wurden die Passagen, die ihren Eingriffen zum Opfer fielen, einige Male strich sie sogar mehrere Absätze hintereinander durch. Tränen liefen ihr über die Wangen.Sie musste die Vollkommenheit des Werkes zerstören, Worte der Wahrheit und der Vernunft für immer auslöschen, um das Ganze vor der Vernichtung zu bewahren. Die Verstümmelung der Texte bereitete ihr physische Schmerzen – es war, als würde sie ihr eigenes Herz aus der Brust reißen. Doch sie hatte keine andere Möglichkeit, das Werk zu retten, so wenig wie ein Chirurg, der die Gliedmaßen eines vom Wundbrand befallenen Patienten amputiert, um diesen am Leben zu erhalten. Ein Kompromiss war besser, als alles zu opfern. Die Enzyklopädie war nur ein Anfang, andere würden die nächsten Schritte tun. Sophies Aufgabe war es, diesen Anfang zu ermöglichen. Leben bedeutete immer, sich in das Schicksal zu fügen, das Ideal den gegebenen Möglichkeiten anzupassen – das Vollkommene vertrug sich nicht mit der Welt. Das Vollkommene gab es nur im reinen Denken, in der Mathematik und der Philosophie, vielleicht auch in der Kunst. Und in der Liebe?
Sophie stand auf und schaute hinaus in die sternenklare Nacht. So viele Gründe es auch zur Rechtfertigung ihres Zerstörungswerkes gab – konnte sie es vor ihrer Liebe rechtfertigen? Stellte sie nicht, indem sie tat, was sie tat, die Enzyklopädie über die Liebe? Wie Diderot es einst getan hatte, bevor sie ihn verließ? Als könne der Himmel ihr Antwort geben, blickte sie zum Firmament. Wie sehr sie die Sterne am Himmel beneidete! Ruhig und unbeirrbar zogen sie ihre Bahn, Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr
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