Die Philosophin
diese Frau, von der es am Hof geheißen hatte, sie sei zukeiner Herzensregung fähig, hatte versucht, ihr den Glauben an die Liebe wiederzugeben, sie an die Pflichten erinnert, die sie Diderot gegenüber hatte. Immer noch hörte sie ihre Worte, wieder und wieder: »Ein missverständlicher Artikel, ein falsches Wort genügt, … und sie werden Diderot verhaften, ihn nach Vincennes bringen oder sogar aufs Schafott.«
Irgendwann in der Nacht gab Sophie den Kampf gegen die Schlaflosigkeit auf. Sie verließ ihr Bett, zündete eine Kerze an und trank ein Glas Wasser. Sie wollte etwas lesen, irgendetwas, bis endlich der Morgen kam. Leise, um Dorval nicht zu wecken, ging sie in ihr Lesekabinett. Den Kerzenleuchter in der Hand, trat sie an ein Regal – da fiel ihr Blick auf einen schmalen Buchrücken, der fast versteckt war zwischen zwei großen Folianten. Es war ein Exemplar der
Geschwätzigen Kleinode
, in rote Seide gebunden. Diderot hatte es ihr geschenkt, irgendwann in der kurzen Zeit ihres Zusammenlebens. Ohne zu überlegen, griff sie nach dem Buch, das sie seit Jahren nicht mehr in den Händen gehalten hatte.
Wollte sie wirklich darin lesen? Es war ein Gefühl wie vor langer, langer Zeit in der Dachkammer über dem »Procope«, wenn sie an den Deckel ihres verbotenen Schatzkästleins rührte, unwiderstehlich angezogen von dem kostbaren Inhalt und gleichzeitig voller Angst. Sie schlug das letzte Kapitel auf, und ohne ihr Zutun fanden ihre Augen die Zeilen, nach denen ihr Herz sich sehnte, eine Botschaft aus einer anderen Welt, die längst verklungen war und doch nicht aufhörte, zu ihr zu sprechen.
»Was sollte fern von Euch, Mongagul, aus mir werden?«, las sie die Worte, die der Ring des Magiers Mirzozas Kleinod entlockte. »Getreu bis in die Nacht des Grabes, hätte ich Euch auch dort gesucht; und wenn Liebe und Beständigkeit beiden Toten irgendwelchen Lohn empfangen, geliebter Fürst, so hätte ich Euch wohl gefunden. Ach! Ohne Euch wäre der herrliche Palast für mich nur eine elende Hütte gewesen …« Sophie schmeckte Salz auf ihren Lippen. Mit dem Handrücken wischte sie über ihre Wangen – sie waren nass von Tränen. Sie schloss das Buch und trat ans Fenster. Draußen zog das erste Licht der Morgendämmerung herauf; wie lebende Drohgestalten schienen die Bäume und Büsche des Parks aus den nächtlichen Schatten hervorzutreten. Nein, sie konnte nicht mehr zu Diderot zurückkehren, ihre Liebe war für immer verbrannt. Aber durfte sie ihn deshalb seinem Schicksal überlassen?
Das unbestimmte, doch unabweisbare Gefühl von Schuld lastete auf ihrer Seele. Sie selbst hatte Malesherbes zum Rücktritt veranlasst, daran gab es für sie keinen Zweifel. Aber hatte sie damit nicht zugleich Diderot und sein Werk in noch größere Gefahr gebracht, als ihnen ohnehin schon drohte? Sie musste Diderot vor der Gefahr warnen, in der er schwebte; er hatte ja keine Ahnung, was sich in Versailles zusammenbraute. Aber würde eine solche Warnung etwas bewirken? Sophie glaubte es nicht. Sie kannte Diderot: Je größer die Gefahr war, vor der man ihn warnte, desto störrischer reagierte er. Sogar als Malesherbes persönlich ihm geraten hatte, Paris zu verlassen, weil ihm nach Damiens’ Hinrichtung und der Verschärfung der Gesetze die Verhaftung drohte, hatte er sich geweigert, stur wie ein Maulesel – nicht einmal seinen todkranken Vater hatte er in Langres besucht, um nicht den Anschein eines Schuldbekenntnisses zu erwecken.
Sophie stellte das Buch zurück ins Regal. Nein, es hatte keinen Sinn, zu Diderot zu gehen, und selbst wenn sie es tat – wahrscheinlich würde er sie nicht einmal empfangen. Wasaber konnte sie dann für ihn tun? Sie wusste es nicht, sie wusste nur, sie durfte nicht tatenlos abwarten, dass er dem neuen Oberzensor ins Messer lief, dass er irgendetwas schrieb und verbreitete, was Sartine zum Anlass nehmen konnte, sein Leben und sein Werk zu zerstören. Denn dass Sartine dies tun würde, stand außer Frage. Madame de Pompadour hatte ihr die Augen geöffnet.
Noch am nächsten Tag zermarterte Sophie sich das Gehirn, doch ohne Erfolg. Das Labyrinth ihres Lebens schien ihr verworrener denn je, ein unentrinnbarer Irrgarten, und die Frage, wie sie Diderot vor sich selbst schützen konnte, verfolgte sie noch, als sie ihren Haushalt am Hofe auflöste, um mit Dorval in ein kleines Haus am Stadtrand von Paris zu ziehen – ja, sogar als sie zwei Wochen nach der Beisetzung ihrer Freundin der Testamentseröffnung
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