Die Philosophin
übrig geblieben – kein Wort, dass man Gott müsse tasten können, um ihn zu begreifen, nur ein paar unverfängliche Sätze zur Naturwissenschaft. Sein Artikel über die Herrschaft der Sultane? Jede Anspielung auf die Herrschaft des Königs war daraus gestrichen – sogar seinen Namen hatte man getilgt, den Verfasser des Artikels zum Anonymus erklärt, als müsse man ihn aus dem Verkehr ziehen.
Diderot hatte die Zensur überwunden geglaubt, doch was war die Zensur der Regierung gegen die Zensur seines Verlegers? Le Bréton hatte sich nicht nur an ihm, sondern an allen Autoren der letzten zehn Bände versündigt. Seine Axt hatte keinen verschont. Viele Artikel waren kaum noch wieder zuerkennen, Beiträge von Voltaire, von Marmontel, von Turgot – die Gedanken der größten Philosophen des Jahrhunderts, verfälscht von einem hinterhältigen Schurken, dessen Feigheit nur noch durch seine Beschränktheit übertroffen wurde.
»Die Autoren haben ohne Honorar geschrieben. Und so haben Sie es Ihnen gedankt!«
»Wie? Sie haben kein Honorar bekommen? Und was ist mit den zweitausendfünfhundert Livres, die ich Ihnen jedes Jahr gezahlt habe? Wovon haben Sie die ganze Zeit gelebt?«
»D’Holbach, Quesnay, Rousseau – sie haben keinen einzigen Sou gesehen.«
»Haben sie darum das Recht, mich zu ruinieren?«
»Sie haben sich selbst ruiniert! Das ganze Buch ist Makulatur! Der Schaden steht in keinem Verhältnis zu den Unterschlagungen, die Sie sich herausgenommen haben. Die Subskribenten haben auf mein Werk gezeichnet, im Vertrauen auf meinen guten Namen, und jetzt bekommen Sie von Ihnen diesen Torso.«
»Machen Sie sich keine Sorgen um die Kunden! Denen ist es zehnmal lieber, sie bekommen einen Torso für ihr Geld als überhaupt kein Buch!«
»Die Journalisten wünschen sich nichts sehnlicher, als uns zu schaden. Sie werden in ganz Paris, in der Provinz, ja sogar im Ausland verbreiten, dass die Enzyklopädie nichts als ein Haufen geschmackloser Abfälle ist. Man wird uns mit diesem Buch in den Kot schleifen, man wird uns verspotten und verlachen. Und man wird uns alle zusammen des Verrats anklagen. Des schändlichsten Verrats, den die Welt je entdeckt hat. Sie haben aus dem Buch verbannt, was seinen Reiz undseinen Wert ausmachte. Sie werden zur Strafe alles verlieren, Ihre Ehre und Ihr Geld.«
Le Bréton hob seine fette weiße Hand. Diderot unterbrach seinen Redefluss und schaute ihn an. Der Verleger kniff die Augen zusammen, sodass sie zwischen den Wülsten bis auf zwei Schlitze verschwanden. Er war das schlechte Gewissen in Person.
»Was soll ich tun, Diderot? Machen Sie mir einen vernünftigen Vorschlag, und wir können darüber reden.«
Diderot schöpfte für einen Augenblick Hoffnung. »Sind die Originale noch da?«, fragte er. »Die Manuskripte und Druckbogen mit den Korrekturen? Damit könnte ich die Fälschungen rückgängig machen. Es wäre eine Heidenarbeit, aber …« Er sprach den Satz nicht zu Ende, denn Le Bréton schüttelte den Kopf.
»Tut mir Leid, aber es gibt keine Originale mehr. Es ist alles verbrannt.«
»Dann … dann machen Sie, was Sie wollen!«, sagte Diderot. »Es ist mir völlig gleichgültig. Ich habe mit dieser Sache nichts mehr zu tun.«
Bevor Le Bréton antworten konnte, hatte Diderot das Redaktionsbüro verlassen und stolperte die Treppe hinunter, um für immer den Verlag zu verlassen – betrogen, gedemütigt, zerstört.
Draußen war es so finster wie am ersten Tag der Schöpfung.
19
Im Jahre 1765, fast zwei Jahrzehnte nachdem Denis Diderot im Café »Procope« den Verleger Le Bréton für sein aberwitziges Projekt gewonnen hatte, war der Augenblick gekommen, dem die Arbeit Dutzender Autoren sowie eines Heers von Setzern und Druckern gegolten hatte. Die letzten zehn Textbände der Enzyklopädie waren, broschiert und in Ballen gebündelt, zur Auslieferung bereit.
Alles verlief nach Plan wie ein generalstabsmäßig organisiertes Kommandounternehmen. Um das Aufsehen so gering wie möglich zu halten, brachte Le Bréton sämtliche zehn Bände auf einen Schlag auf den Markt. Ob in Paris oder Bordeaux, Toulouse oder Rennes: Die Auslieferung erfolgte so rasch und reibungslos, dass weder die Kirche noch die Polizei von der Aktion Kenntnis zu nehmen schienen. Auf diese Weise gelangte die größte verlegerische Tat, das aufwändigste Buchunternehmen der Menschheitsgeschichte seit Erfindung der Druckkunst, ohne weitere Intervention der Obrigkeit zum vorläufigen Abschluss: Die
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