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Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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für Jahr, als könne es keinen Irrtum geben …
    Sie wischte die Tränen fort und kehrte an den Schreibtisch zurück. Sie hatte ihre Liebe auf dem Altar der Vollkommenheit geopfert, ein solches Ende durfte sich bei der Enzyklopädie nicht wiederholen. Und so setzte sie ihre grausame Arbeitfort, diese mörderische, unglaubliche, infame Operation, um das Leben und Werk jenes Mannes zu retten, dem sie nur noch auf diese entsetzliche Weise ihre Liebe beweisen konnte. Später, so war es mit Le Bréton ausgemacht, würden sie die Korrekturbogen ebenso verbrennen wie die Manuskripte, ein Original nach dem anderen, sowie der Druck des Werkes vorankam, um Sophies Eingriffe unwiderruflich zu machen.
    Ab und zu hörte sie Geräusche aus dem Zimmer ihres Sohnes. Dann zuckte sie zusammen, sich ihrer Schuld bewusst wie ein Verbrecher, der sich vor seiner Entdeckung fürchtet, während draußen in der Dunkelheit, beschienen vom Mond und von den Sternen, die schwarzen Fluten der Seine vorüberströmten und in den Netzen von Saint-Cloud sich das Treibgut der großen Stadt verfing.

17
     
    »Es ist vollbracht, Le Bréton! Wir haben es tatsächlich geschafft!«
    »Ich weiß, ich weiß, Diderot. Aber das ist noch lange kein Grund, sich jetzt auf die faule Haut zu legen. Wir haben noch mehr als genug zu tun.«
    »Eine Minute nur. Einfach, um es zu genießen …«
    Diderot konnte sich an dem Anblick gar nicht satt sehen. Bis unter die rauchgeschwärzte Decke der Druckerei türmten sich die frischen Bogen der Enzyklopädie, die Le Brétons Männer nun Packen für Packen auf ein Fuhrwerk verluden, das am Hintereingang bereitstand. Sie hatten an diesem Tagdie Arbeit am siebzehnten und letzten Textband endgültig abgeschlossen. Tausende von Beiträgen stapelten sich hier, das gesamte Wissen der Welt, geschrieben und redigiert, gesetzt und gedruckt, in fast zwanzig Jahren voller Mühe und Gefahr, unter den Augen der Regierung, gegen den Widerstand der Polizei und der Pfaffen. Obwohl Diderot nicht an Wunder glaubte – dieses war eines, das selbst er nicht leugnen konnte.
    »Wir haben sie
alle
besiegt, sogar die Jesuiten! Wer hätte das jemals für möglich gehalten?«
    Zusammen mit Le Bréton bereitete er die Auslagerung der Druckbogen ins »Ausland« vor, tatsächlich aber nur in das Dörfchen Massy, um sie von dort aus gebunden und unter Angabe eines fremden Druckorts – sie hatten sich für Neuchâtel in der Schweiz entschieden – offiziell »einführen« zu können. Diderot freute sich wie ein Dieb, die Zensurbehörde auf diese Weise ein letztes Mal zu überlisten. Der Augenblick, da er seinem Sohn und seiner Tochter das fertige Werk aushändigen konnte, war in greifbare Nähe gerückt.
    »Vorwärts! Was steht ihr faul herum? Beeilt euch!«
    Während Le Bréton die Arbeiter zu größerer Eile antrieb, griff Diderot nach einem der Bogen. Er wollte den fertigen Text berühren, ihn mit all seinen Sinnen spüren, als müsse er sich noch einmal vergewissern, dass er das alles nicht nur träumte. Wie schön sich das Papier anfühlte, wie herrlich es nach der Druckerschwärze roch. Nein, sein Traum war Wirklichkeit geworden. Die neue Bibel für die neue Zeit – er hatte sie geschaffen und hielt sie nun in der Hand.
    »Wollen Sie jetzt etwa lesen?«, rief Le Bréton. »Das können Sie später noch lange genug, wenn Sie ein alter Mann sind. Wir müssen alles fortschaffen, so schnell wie möglich. Ichhabe keine Lust, dass man uns noch in letzter Minute erwischt.«
    »Nur einen kleinen Blick zum Abschied, bevor die Bogen auf Ihrem Fuhrwerk verschwinden. Sie sind doch meine Kinder!«
    Er schlug irgendeinen Artikel unter dem Buchstaben S auf: »Sarazenen« – einer von über fünftausend Artikeln, die er in der langen Zeit verfasst hatte.
    »Wenn ich mir vorstelle, dass dieses Buch bald die ganze Welt erobert …«
    »Richtig!«, erwiderte Le Bréton. »Denken Sie an Ihre Unsterblichkeit! Aber sorgen Sie dafür, dass Sie sie auch erleben! Solange die Bogen noch hier sind, sitzen wir auf einem Pulverfass.«
    Diderot ließ sich nicht beirren, der Genuss des fertigen Werkes war einfach zu groß. Voller Stolz las er die Zeilen, die sich tiefschwarz vom weißen Grund abhoben, Worte wie für die Ewigkeit. Dem Anschein nach gaben sie nur eine weit zurückliegende Vergangenheit wieder, tatsächlich aber gingen sie hart mit der Regierung und dem Glauben ins Gericht: »Mohammed war von der Unvereinbarkeit von Philosophie und Religion so tief durchdrungen,

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