Die Philosophin
verlassen. Ich dachte, das sollten Sie wissen.«
Diderot zuckte die Achseln. »Was geht mich das an?«
»Erlauben Sie mir, offen mit Ihnen zu sprechen?«
»Ganz wie Sie wünschen.«
Malesherbes legte ihm die Hand auf den Arm und blickte ihn an. »Sophie liebt Sie. Niemand weiß das besser als ich. Mich hat sie geachtet, geschätzt, vielleicht sogar gemocht – aber ihre Liebe galt immer nur Ihnen. Sie dürfen sie nicht gehen lassen!«
Diderot entzog ihm den Arm. »Eine Frau«, sagte er mit kalter Verachtung, »ist wie eine reich gedeckte Tafel. Doch es ist ein großer Unterschied, ob man sie vor oder nach der Mahlzeit betrachtet.«
»Ich kann Ihren Zynismus verstehen, der Schmerz der Trennung ist auch mir nicht unbekannt. Aber vergessen Sie nicht: Sie haben einen gemeinsamen Sohn. Dorval verehrt und bewundert Sie wie keinen zweiten Menschen auf der Welt.«
»Hat man Sie zu mir geschickt, um mir das mitzuteilen? Dann sagen Sie mir doch bitte, warum man mir meinen Sohn all dieJahre vorenthalten hat?« Diderot schüttelte den Kopf. »Nein, ich will diese Frau nie wieder sehen.«
Malesherbes zögerte. »Ich weiß«, sagte er dann, »es steht mir nicht zu, eine Erklärung von Ihnen zu verlangen. Aber ich kann Ihr Verhalten weder begreifen noch gutheißen.«
Diderot wandte sich zum Fenster, damit der andere sein Gesicht nicht sah. Während draußen am schwarzen Himmel die letzten Raketen verlöschten, sagte er: »Sie haben sich immer für die Enzyklopädie eingesetzt, einige Male sogar Ihr Amt und Ihre Stellung aufs Spiel gesetzt, um sie vor dem Ende zu retten. Sie haben darum ein Recht, die Wahrheit zu erfahren.«
»Und was ist die Wahrheit?«, fragte Malesherbes leise, als Diderot stockte.
»Sophie hat die Enzyklopädie zerstört. Sie hat ohne mein Wissen hinter meinem Rücken Hunderte von Artikeln zensiert und bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Die Arbeit von Jahren und Jahrzehnten vernichtet.«
»Unmöglich! Wer behauptet das?«
»Monsieur de Sartine, Ihr Nachfolger. Er hat es mir zuverlässig versichert. Ja«, wiederholte Diderot, »sie hat mein Lebenswerk zerstört, mit der Anmaßung und Willkür eines Despoten. Sie hat mich feige betrogen und meinen Verleger angestiftet, ihr bei dem Verrat zu helfen. Sie hat mich der Verachtung, dem Hohn, dem Ruin preisgegeben. Gott sei Dank bin ich alt genug, um zu wissen, dass ein solches Verbrechen selten ungestraft bleibt. Das ist der einzige Trost, den ich habe.«
Es entstand eine Pause. Diderot hörte, wie sein Besucher atmete, in schweren, tiefen Zügen, als könne er nicht glauben,was doch die Wahrheit war, und das Schweigen füllte den Raum wie ein fauliges Gas.
Schließlich fragte Malesherbes: »Und was glauben Sie, warum sie das getan hat?«
»Um mich zu verletzen, um sich an mir zu rächen, um mich zu vernichten – was weiß ich?« Diderot drehte sich um. »Aber wozu fragen Sie nach Motiven? Kann es irgendeinen Grund auf der Welt geben, der diese Schandtat rechtfertigen würde?«
Malesherbes schwieg erneut, offenbar hatte er keine Antwort parat. Alt und grau sah er aus, viel älter, als er in Wirklichkeit war – so sehr hatte die Mitteilung ihn aus der Fassung gebracht. Er schien nachzudenken, kaum merklich wiegte er den großen, schweren Kopf mit der nachlässig frisierten Perücke und strich sich immer wieder die Tabakkrümel vom Revers seines braunen Rocks.
Was ging ihm durch den Sinn?
Diderot war nie wirklich klug aus diesem Mann geworden. Er war der Sohn und Schützling des ehemaligen Kanzlers und zugleich ein Philosoph, Staatsrat des Königs und trotzdem ein aufgeklärter Geist. Er hatte die Enzyklopädie verboten und dann wieder seine Hand schützend über sie gehalten, den Druck der Textbände offiziell untersagt und doch ihre Fertigstellung geduldet. Er schien alle Widersprüche in sich zu vereinen, an denen dieses marode Regime krankte. Und jetzt kam dieser Mann, der doch mit Sophie lange Zeit in einer Liaison gelebt hatte, zu ihm, um sie miteinander zu versöhnen?
»Ich glaube«, sagte Malesherbes nach einer langen Weile, »kaum ein Mensch wünscht sich sehnlicher eine freie Presse für dieses Land als ich, und vielleicht ist es die Tragik meines Lebens, dass es ausgerechnet meine Aufgabe war, Gedankenund Ideen, die in unserer Sprache geschrieben wurden, der Zensur zu unterwerfen. Doch eines habe ich in den Jahren dieses misslichen Amtes gelernt: Wenn es eine Zensur geben muss, aus welchen Gründen auch immer, ist es das Beste, sie wird
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