Die Philosophin
Tabakschenke im Faubourg Saint-Marceau die Tagelöhner verachtet hatte, die mit zitternden Händen zu ihr gekrochen waren, um sie um ein Glas Branntwein anzubetteln. Und doch musste sie es tun; es war wie ein innerer, unabweisbarer Zwang, der sie Abend für Abend dazu trieb. Denn das Lesen dieser Schriftzeichen war ihre Sucht. Aus den Buchstaben, aus den Wörtern und Sätzen, aus jedem noch so winzigen Bruchstück und Gedankenfetzen stiegen neue Welten vor ihr auf, wie im Märchen die Geister aus einer Flasche, andere, schönere, bessere Welten, in die sie nach der Mühe des Tages entfloh, Welten voller Geheimnisse, in denen sie manchmal sogar ihren Vater Dorval wiederfand, um gemeinsam mit ihm nach ihrer Mutter zu suchen.
Doch an diesem Abend versagte der Zauber. Statt buntes Leben zu entfalten, blieben die Schriftzeichen tote, schwarze Buchstaben auf altem Papier, die sich beharrlich weigerten, ihre Geheimnisse preiszugeben. Aber das lag nicht an denWorten oder Sätzen, die da geschrieben standen, sondern an Sophie. Sie war vollkommen durcheinander, unfähig, auch nur eine Zeile in sich aufzunehmen. Denn Antoine Sartine, der freundliche Stammgast des »Procope«, hatte ihr vor wenigen Stunden einen Heiratsantrag gemacht, sie gebeten, für immer seine Frau zu werden – in einer ruhigen Minute zwischen zwei Theatervorstellungen, als die Gäste ihr eine Verschnaufpause gönnten.
Sophie legte die Papiere in das Kästchen zurück, schloss den Deckel und verstaute ihren Schatz in einer Mauernische hinter einem losen Stein. Obwohl sie am nächsten Tag bereits in der ersten Morgenfrühe aufstehen musste, um den Herd in der Küche anzufachen, wollte sie noch hinunter auf die Straße und ein paar Schritte am Fluss entlanggehen. In diesem Zustand konnte sie unmöglich schlafen.
Draußen umfing sie dunkles Schweigen. Nur ein paar vereinzelte Müßiggänger begegneten ihr auf der Straße, manche in Begleitung von Laternenträgern, die den Nachtschwärmern mit ihren Stocklichtern für ein paar Kupfermünzen heimleuchteten. Hier, fernab vom Trubel der Cafés und Theater, war es so still, dass Sophie schon bald das Rauschen der Seine hören konnte. Eine frische Brise wehte über den Fluss, auf dessen Fluten sich die Lichter der Stadt und des Himmels spiegelten, und vertrieb die Ausdünstungen der Schlächtereien und Fischmärkte, der Jauchegruben und Friedhöfe, die sich bei Tage in den engen Straßen zwischen den hohen Häusern zu einem süßlichen, Übelkeit erregenden Gestank stauten, an dem man zu ersticken glaubte.
Tief atmete sie die laue Nachtluft ein. Sollte sie Sartines Antrag annehmen? Die Vorstellung löste ein sanftes Wohlgefühl in ihr aus. Die Heirat würde ihr Leben in der riesigen fremdenStadt von Grund auf verändern – erstmals seit dem Tod ihrer Mutter, deren Bild für immer aus ihrem Gedächtnis gelöscht war, würde es wieder einen Menschen geben, der sich ganz und gar um sie kümmerte, der sie kannte mit all ihren Gewohnheiten und Vorlieben, der wusste, auf welcher Seite sie sich abends zum Schlafen legte und mit welchem Bein sie morgens aufstand. Wie sehr sehnte sie sich nach solcher Nähe! Im Faubourg Saint-Marceau hatte sie über ein Jahr im Elend gehaust, zusammen mit den Ärmsten der Armen von Paris, in einem Haus, wo ganze Familien in einem einzigen Zimmer mit nackten Wänden wohnten, wo die stets feuchten und schmutzigen Lager ohne Vorhänge waren, wo Küchengeräte mit den Nachttöpfen durcheinander fielen. Jetzt bot ihr der junge Polizeioffizier ein Heim und ein sicheres Auskommen; als seine Frau würde sie immer ein anständiges Dach über dem Kopf haben, dazu ordentliche Kleider und reichlich zu essen. Und sie würde zur Kommunion gehen dürfen. Denn im Kloster hatte sie als Buße dafür, dass sie den Leib Christi erbrochen hatte, geschworen, erst dann wieder an den Tisch des Herrn zu treten, wenn sich jemand fand, der sie heiraten wollte.
War Antoine Sartine der Mann, auf den sie gewartet hatte? Sophie mochte ihn, er behandelte sie stets freundlich und voller Respekt, obwohl er als Staatsdiener weit über ihr stand. Schon seit einiger Zeit hatte er ein Auge auf sie, das war ihr nicht entgangen, und sie freute sich darüber. Warum aber zögerte sie jetzt, da er sich ein Herz gefasst und sie gefragt hatte? Warum hatte sie ihn um Bedenkzeit gebeten, statt ihm sogleich ihr Jawort zu geben? Weil sie sich nicht vorstellen konnte, ihn eines Tages auch zu lieben?
Liebe – bei dem Gedanken entrang
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