Die Philosophin
einer Tabakschenke arbeiten, als noch eine Minute in Gegenwart dieser zwei Männer verbringen.
Um sieben Uhr hatte sie eine Stunde frei. Froh über die Pause, band sie sich die Schürze ab und verließ das Haus. Ohne Ziel lief sie durch die Gassen, auf die allmählich die Dämmerung herabsank. Während die meisten Pariser beimEssen saßen, kehrte in der Stadt eine tiefe, unwirkliche Ruhe ein. Auf den Plätzen warteten die Droschken, die Pferde fraßen Hafer in ihrem Geschirr und schlugen mit den Hufen das Pflaster. Noch hatte das Bühnenwerk der Oper sich nicht in Bewegung gesetzt, waren die Nachtschwärmer mit der Toilette beschäftigt. Für diese eine Stunde ruhte die große Stadt, als wäre der Trubel an eine unsichtbare Kette gelegt.
»Warum bist du davongelaufen?«
Es war in der Rue Mouffetard, als Diderot plötzlich vor ihr stand.
»Sind Sie mir etwa gefolgt?«, fragte sie, ebenso verwirrt wie verärgert. »Haben Sie nicht schon genug Schaden angerichtet?«
»Natürlich bin ich dir gefolgt, Mirzoza«, erwiderte er mit seinem frechen Grinsen. »Wie sollte ich nicht? Der ganze Palast ist auf den Beinen, um dich zu suchen. Sieh nur«, er zeigte mit dem Daumen auf zwei Dirnen, die frisch geschminkt und mit halb entblößtem Busen in einem Hauseingang standen, die Blicke neugierig auf sie gerichtet, »sogar die Haremsdamen sind gekommen, um dich heimzubringen.«
»Haremsdamen?« Gegen ihren Willen musste Sophie lachen.
»Dann sehen sie im Morgenland aber nicht viel anders aus als in Paris.«
»Keine Angst«, sagte er, »du brauchst nicht eifersüchtig zu sein. Mongagul hat nur Augen für die Prinzessin. Weißt du eigentlich, was die ersten Worte waren, die der Sultan an sie richtete?«
»Lassen Sie mich raten! Vielleicht ›eine Tasse Schokolade‹?«
»Vollkommen falsch«, protestierte er. »›Mit viel Vanille und Zimt!‹«
So selbstverständlich, als hätte sie darauf gewartet, nahm erihre Hand, und während er sie mit sich fortzog, spann er seine Geschichte weiter: Wie der Sultan Mongagul sich so sehr in die Prinzessin Mirzoza verliebte, dass er seinem Zauberer befahl, ihm ein Dutzend Arme wachsen zu lassen, um sie nach Herzenslust an sich zu drücken, ein Dutzend Hände, um sie zu liebkosen, ein Dutzend Münder, um sie zu küssen.
»Sonst verlangte er nichts?«, fragte Sophie.
»Doch«, erwiderte Diderot, »ein Dutzend Ohren, die brauchte er auch. Denn nichts beglückte den Sultan mehr als der Klang ihrer Stimme, und wenn sie lachte, glaubte er zu vergehen vor süßer Seligkeit.«
Wie zärtliche Berührungen empfand Sophie seine Worte. Konnte das Leben so schön sein wie seine Geschichten? Vergessen waren die Scherben, der Patron, die Tabakschenke des Faubourg Saint-Marceau. Ein paar Gipser kreuzten ihren Weg, um die Dirnen anzusprechen – Nachzügler jenes großen Heers von Tagelöhnern und Handwerkern, das allabendlich in die Vorstädte zurückflutete. Der Kalk an ihren Schuhen färbte das Pflaster weiß, und während Sophie ihre Spuren mit den Augen verfolgte, lauschte sie Diderots Worten, die von seiner dunklen, warmen Stimme so sicher getragen wurden wie Boote von einem ruhigen, breiten Fluss. In seinem Märchen zu leben musste sein wie im Paradies.
Auf einmal blieb er stehen und sagte: »Erzähl mir deine Geschichte! Warum bist du nach Paris gekommen?«
»Woher wollen Sie wissen, dass ich keine Pariserin bin?«
»So, wie du sprichst?« Er lachte. »Nein, du kommst aus einer Gegend, in der ein guter Wein wächst.«
»Das hören Sie an meiner Sprache?«, fragte sie überrascht.
»Die Sprache verrät mehr, als die Worte sagen. Ich möchtewetten, du warst schon mal in Langres, da komme ich nämlich selbst her. Oder in Dijon? Oder noch weiter im Süden, zum Beispiel«, er machte eine kurze Pause, »in Roanne?«
Als er so unvermittelt den Namen der Stadt aussprach, die ihr ganzes Unglück bedeutete, stieg die Vergangenheit wie eine Flutwelle in ihr auf. Plötzlich sah sie ihre Mutter vor sich, im Schandlinnen, das Gesicht ein leerer weißer Fleck, in dem ein Mund, ein gespenstisches Lippenpaar, das Wort »Glück« formte, wie um sie zu warnen, und darunter ein buntes, flatterndes Tuch.
»Ich brauchte Arbeit«, sagte sie leise. »Deshalb bin ich nach Paris gekommen.«
»Gab es in deiner Heimat denn niemanden, der sich um dich kümmerte?«
Sophie zögerte. Sollte sie ihm ihre Geschichte erzählen? Sie sah Baron de Laterre vor sich, beim Abschied vom Schloss, er beugte sich über sie, um
Weitere Kostenlose Bücher