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Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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ihr Haar zu küssen, dann Abbé Morel, der sie an der Klosterpforte in die Obhut der Nonnen gab. Wie durch ein Labyrinth war sie nach Paris gelangt. Nachdem sie das Kloster verlassen hatte, war sie zunächst nach Beaulieu zurückgekehrt, um auf dem Schloss des Barons zu arbeiten. Doch nach nur wenigen Tagen war sie geflohen, heimlich im Morgengrauen – sie konnte an dem Ort nicht leben, wo jedes Haus, jeder Weg, jeder Baum sie an ihre Mutter erinnerte, deren Bild ihr für immer entschwunden war. Danach war sie in all den Städten gewesen, die Diderot genannt hatte, erst in Roanne, dann in Dijon und auch in Langres, wo sie sich zwei Wochen als Wäscherin verdingt hatte. Aber nirgendwo hatte sie es länger als einen Monat ausgehalten; stets hatte es sie weiter Richtung Norden gezogen, in die Hauptstadt, als wäre Paris die Lichtung im Zentrum desLabyrinths, durch das sie irrte. Tief in ihrem Innern wusste sie, was sie in dieser Stadt suchte. Doch konnte sie darüber mit einem Fremden sprechen?
    Plötzlich wurde ihr bewusst, dass Diderot immer noch ihre Hand hielt. Sie machte sich von ihm los, und statt ihm zu antworten, stellte sie ihm eine Frage, die ihr den ganzen Tag schon auf der Seele lag. Die Frage war ihr gestern Abend gekommen, in ihrer Kammer, beim Stöbern in ihrem heimlichen Schatzkästlein.
    »Stimmt es, dass Sie Bücher schreiben?«
    »Allerdings«, erwiderte er mit einem Anflug von Stolz. »Es ist sogar mein Beruf.«
    »Das ist ein Beruf?«, staunte sie.
    »Und ob! Der schönste, den es gibt. Weil, wenn man eine Geschichte erfindet, kann man ja alles erleben, was man sich gerade wünscht. Ohne das Haus zu verlassen, reist man in ferne Länder, lernt fremde Völker und Menschen kennen. Man redet mit Königen und Weisen, begegnet fast so schönen Frauen wie hier in der Rue Mouffetard, und wenn man will, kann man die teuersten Weine trinken, ohne einen Sou dafür zu bezahlen. Beim Schreiben verändert sich die ganze Welt, man braucht es nur zu wollen und es sich vorzustellen.«
    »Macht Ihnen das nicht Angst?«, fragte Sophie. »Das ist doch gefährlich!«
    »Gefährlich? Weshalb?«
    »Weil Sie so tun, als würde es etwas geben, was nicht wirklich ist. Wenn Menschen, die gar nicht leben, Könige und Weise und schöne Frauen, plötzlich auftauchen wie Geister aus einer Flasche, das ist doch wie …«, sie suchte nach einem Vergleich, »wie Magie, wie Zauberei.«
    »Genauso soll es ja sein!«, rief er mit leuchtenden Augen.
    »Wie Magie und Zauberei! Aber sag mal«, unterbrach er sich, »wie kommst du überhaupt darauf? Kannst du etwa lesen?« »Nein!« Sie schüttelte so heftig den Kopf, als habe er sie gefragt, ob sie ihn heiraten wolle. »Frauen, die lesen und schreiben können, haben kein Glück im Leben.«
    »Wie bitte? Warum denn das?«
    »Weil es so ist«, sagte sie trotzig. »Außerdem«, fügte sie hinzu, als er ihr widersprechen wollte, »hat Abbé Morel das gesagt, der Pfarrer in meinem Dorf, und der kannte die ganze Bibel auswendig.«
    »Wahrscheinlich, weil er selbst nicht lesen konnte.«
    »Woher wollen Sie das wissen?«, fragte sie verärgert.
    »Die meisten Dorfpfarrer können nicht lesen. Das gehört zu ihrer Profession.«
    »Mir ist ganz gleich, was Sie sagen«, erwiderte sie. »Gott will nicht, dass Frauen lesen oder schreiben. Genauso wenig wie er will, dass sie fremde Männer lieben …«
    Sie verstummte. Die letzten Worte waren ganz von allein über ihre Lippen gekommen. Warum hatte sie das gesagt? Sie kam sich auf einmal fürchterlich dumm vor und traute sich kaum, Diderot anzuschauen. Doch als sie den Blick hob, lächelte er sie an, und es war, als würde er sie mit seinem Lächeln in einen Mantel aus Seide hüllen.
    »Glaub nicht solche Sachen«, flüsterte er und streifte ihre Wange. »Gott hat nichts gegen die Liebe, das hat nur der Teufel.«
    Sein Gesicht war jetzt ganz nah, sie ertrank fast in seinen hellblauen Augen. Doch seltsam, es machte ihr überhaupt keine Angst, im Gegenteil, es war ein so wunderbares Gefühl, dass sie gar nicht mehr wusste, wo sie überhaupt war. War sie im Morgenland? Im Reich des Sultans Mongagul?
    Da ertönte von irgendwoher eine Frauenstimme, laut und schrill wie von einem Fischweib: »Denis? Was tust du da?«
    Diderot zuckte zusammen, und das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. Wie ein Dieb schaute er sich um, von plötzlicher Unrast beseelt. Sophie erwachte. Das wunderbare Gefühl war dahin, sie stand wieder in der Rue Mouffetard. Die beiden

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