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Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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beförderte er Tausende von Schiffen und Kähnen, die für einen nie endenden Zustrom von Nahrung und Waren sorgten, und trug so erheblich zum Wohlergehen der Kapitale und ihrer Bevölkerung bei.
    An manchen Tagen aber, wenn der Wind plötzlich schwieg und die Temperaturen unter den Taupunkt sanken, kam es zu einem gefährlichen Austausch zwischen den Wasserfluten und den darüber liegenden Schichten der Luft. Es begann mit einer harmlosen Trübung der Atmosphäre, aufgrund der Ausscheidung von Dampf in feinen Tröpfchen, doch dieser Dunst verdichtete sich alsbald zu einem undurchdringlichen Nebel, der sich zwischen den Hügelketten zu beiden Seiten des Flusses wie in einer Waschküche zusammenballte. Während der Schiffsverkehr nach und nach zum Erliegen kam, krochen die Nebelschwaden ans Ufer und wälzten sich aufs Land, vermehrten sich dort wie eine helle Finsternis, um schließlich die ganze Stadt in ihren Besitz zu nehmen. In immer gewaltigeren Massen waberten sie durch die Straßen und Gassen, breiteten sich auf den Plätzen aus und hüllten die Gebäude ein, die Kirchen und Paläste ebenso wie die einfachen Häuser der Bürger, sodass es manchmal schien, als wäre der Wolkenhimmel auf die Erde herabgesunken.
    Dann lag der Krake Paris wie unter einem gigantischen Leichentuch da, ohne sich zu rühren, und das Leben in seinemGedärm drohte zu ersticken. Denn der Nebel vermischte sich mit dem ewigen Rauch, der überall in der Stadt aus den Schornsteinen drang – Myriaden Partikel von Staub und Ruß, die zwischen den hohen Häuserzeilen schwebten –, und bildete mit ihm einen so dichten Brodem, dass man nicht einmal die Fackeln mehr erkennen konnte, die zur Markierung der Wege an den Straßenecken brannten. Der sonst unerträgliche Lärm der Stadt schien wie von einem riesigen Geistermaul verschluckt, und während alle Laute nur gedämpft und wie aus weiter Ferne an die Ohren drangen, stießen die Menschen auf offenen Plätzen zusammen, weil sie im undurchdringlichen Dunst einander nicht bemerkten, traten zur Tür des Nachbarn ein statt im eigenen Haus, und die Kutscher kletterten von den Böcken und betasteten mit den Händen die Prellsteine, wenn sie mit ihren Gefährten voroder zurücksetzen mussten.
    Hatte der Nebel dieses gespenstische Ausmaß erreicht, rief der Magistrat die Blinden vom Hospiz Quinze-Vingts zu Hilfe, die dort mit ihren Sammeltassen hockten, eintönig ihre Bitten um Almosen näselten und mit ihren Stöcken die Beine der Passanten examinierten. Durch den Verlust des Augenlichts an ewige Finsternis gewöhnt, fanden sie sich nun in dem Gewirr der Gassen besser zurecht als selbst die Topografen, die den Plan von Paris gezeichnet hatten. Solange der Nebel herrschte, bekamen sie täglich pro Kopf fünf Livres zugeteilt. Ihr Auftrag dafür war, die Bürger sicher durch die verhangene Stadt zu führen.
    Ohne zu klagen, nahmen die Pariser diese Beeinträchtigung des Lebens und ihrer Geschäfte hin. Wer eine Besorgung zu erledigen hatte, fasste einen Blinden am Rockschoß und ließ sich von ihm über die Straßen und Kreuzungen leiten. DerBäcker, der das Brot auslieferte, der Arzt, der zu einem Patienten eilte, die Hausfrau, die ihre Einkäufe machte, der Richter, der den Justizpalast suchte, selbst der Pfarrer auf dem Weg zu seiner Kirche – sie alle vertrauten sich der Führung durch die Blinden an. Die Beziehungen zwischen den einzelnen Punkten der Stadt vermochten sie dabei so wenig zu erkennen wie Ameisen, die sich durch die unterirdischen Stollen und Gänge ihres aufgehäuften Staates bewegten. Wozu auch – war in den wabernden Nebelschwaden nicht jede Wahrnehmung nur ein trügerischer Spuk?
    Ja, es war erstaunlich, mit welchem Gleichmut die Pariser sich in ihr Schicksal fügten. Sie nahmen den Nebel hin wie einen unabänderlichen Umschwung des Wetters, wie Regen, Schnee oder Sonnenschein. Nur einige wenige murrten auf, forderten Maßnahmen des Magistrats und der Regierung. Denn sie sahen in den seltsamen und bedrohlichen Vorgängen, die der Nebel an solchen Tagen in ihrer Stadt auslöste, die Verfassung des ganzen französischen Königreichs widergespiegelt.
    Wie musste es um einen Staat bestellt sein, so ihre sorgenvolle Frage, in dem die Blinden die einzigen Sehenden waren?

2
     
    »Was haben Sie uns heute mitgebracht, Monsieur de Malesherbes?«
    Aufmerksam musterte Madame de Pompadour den Direktor der königlichen Hofbibliothek, der ihr wie an jedem Mittwochmorgenzum Lever seine

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