Die Philosophin
genug, um ihre Existenz zu sichern, und doch nicht zu viel, um ihren Eifer zu bremsen. Rund um die Uhr waren die zwei im Dienst. Wie die Rekrutenwerber am Pont Neuf, die Soldaten für das Heer des Königs aushoben, sammelten sie unter den Philosophen und Schriftstellern ihre Kombattanten für die Schlacht. Während Diderot in den Kaffeehäusern für ihre Armada warb, frequentierte d’Alembert die literarischen Salons und antichambrierte bei Staatsministern und Gerichtspräsidenten. Um die Reputation der Enzyklopädie zu stärken, mussten sie möglichst viele Gelehrte in offizieller Stellung gewinnen, königliche Räte, Mitglieder der Sorbonne und derAkademien. Zum Glück hatte inzwischen eine stattliche Reihe berühmter Männer ihre Mitwirkung zugesagt, außer Voltaire, Buffon und Montesquieu auch Marmontel und Turgot – sogar der steinalte Fontenelle, der schon auf die hundert zuging, wollte einen Artikel schreiben. In ihrem Gefolge wuchs ein ganzes Heer namenloser Autoren heran: Experten für Medizin und Theologie, für Chemie, Chirurgie und Grammatik, für Geografie, Rhetorik und Architektur, für Gartenbau und Militärwesen. Nur das Thema Musik war bereits erschöpfend behandelt. Jean-Jacques Rousseau, Diderots alter Freund, hatte in einem unglaublichen Kraftakt dreihundertneunzig Artikel aufs Papier geflammt – in weniger als drei Monaten. Die Frage allerdings, wer die Vorrede zu dem Gesamtwerk schreiben solle, hatten die Herausgeber noch nicht entschieden.
Diderot tunkte ein letztes Mal seinen Gänsekiel ins Tintenfass und setzte seinen Namen unter das Manuskript. Wieder war ein Artikel fertig. Welchen Gegenstand würde er als nächsten vornehmen? Während er das Material in den Pappkartons sichtete, fühlte er sich wie ein Bergsteiger am Fuß eines riesigen Gebirges. Tausende von Fragen warteten auf ihre Antwort. Doch so groß die Anstrengung auch sein mochte, die immer noch vor ihm lag, er hatte den Gipfel fest im Blick. Wissen war Macht – wie konnte er es beschaffen? Das Feld der menschlichen Kenntnisse war grenzenlos – welches Wissen aus welchen Bereichen musste er aufnehmen?
Er war entschlossen, in der Enzyklopädie nicht nur den herkömmlichen Schulweisheiten Platz einzuräumen. Ebenso wichtig waren die mechanischen Künste, die neuen Techniken und Verfahren, die in immer mehr Betrieben und Manufakturen ihren Einzug hielten. Diderot wusste, hier war eineRevolution im Gange, die die Welt von Grund auf verändern würde. Er wollte Zeichner verpflichten, die imstande waren, mechanische Vorgänge präzise wiederzugeben, mit Handwerksmeistern sprechen, um von ihnen die Fachbegriffe der Gewerbe zu lernen. Die Leser der Enzyklopädie sollten nicht nur begreifen, wie das Sonnensystem funktionierte, sondern auch, wie ein Schuh oder ein Werkzeug entstand. Schon heute freute er sich auf den Tag, da er seinem Vater den Band mit dem Artikel über die Messerschmiedekunst vorzeigen konnte. Der Alte würde so stolz auf ihn sein wie früher, wenn der Sohn mit einem Lorbeerkranz auf den Schultern von der Schule nach Hause gekommen war.
Auf der Straße wurden Stimmen laut. Was war das für ein Lärm? Als ob zwei Marktweiber sich bekriegten. Nichts Gutes ahnend, stand Diderot vom Schreibtisch auf und trat ans Fenster. Schon wieder! Dort unten waren seine Frau und seine Mätresse aneinander geraten: Xanthippe und Messalina – die eine so dumm wie die andere hässlich. Sie wurden von Straßenhändlern und Passanten umringt, die neugierig ihren Streit verfolgten.
»Sie? Seine Frau? Er hat mir selbst gesagt, dass er Sie am liebsten gar nicht mehr sehen würde.«
»Und wovon bin ich dann schon wieder schwanger? Vielleicht vom Heiligen Geist?«
Plötzlich sprang ein Wasserträger aus der Menge hervor und schüttete einen Eimer über die zwei. Während die Zuschauer sich bogen vor Lachen, schloss Diderot das Fenster. Sollten sie machen, was sie wollten – ihn ging das nichts an. Dank Le Brétons Wechsel konnte Nanette pünktlich zu jedem Achten die Miete zahlen, und Madame de Puisieux bekam, was am Ende des Monats übrig blieb. Damit war seine Pflicht getan.
»Was ist das denn? Ein Artikel über Schokolade? Jetzt fehlt nur noch das Suppenhuhn!«
Diderot drehte sich um. An seinem Schreibtisch stand Rousseau, das Manuskript in der Hand, das er gerade abgeschlossen hatte. Sein Freund zog ein Gesicht, als müsse er dringend den nächsten Abort aufsuchen, während er von dem Blatt zu lesen begann.
»›Ist der Zucker
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