Die Philosophin
Aufwartung machte, um sie mit den neuesten Druckerzeugnissen aus Paris zu versorgen. Zwei Jahre waren vergangen, seit sie den jungen Parlamentsrat in sein heikles Amt eingesetzt hatte. Sie wusste, wer dieses Amt bekleidete, lief Gefahr, es sich mit allen Parteien am Hofe gleichzeitig zu verderben – oder es gelang ihm, sich alle Parteien gleichzeitig zu verpflichten. Dem Anschein nach war Malesherbes entschlossen, es im letzteren Sinn zu nutzen.
»Etwas sehr Interessantes«, erwiderte er, während er eine Prise Schnupftabak nahm.
»Einen
Brief über die Blinden, zum Gebrauch der Sehenden.«
»Wie bitte?«
»So lautet der Titel, Madame. Er stammt von einem anonymen Verfasser und richtet sich an eine gewisse Frau von Puisieux.«
»Eine medizinische Abhandlung?«
»Wenn man so will. Der Autor beschreibt den Fall eines englischen Mathematikers, der in seiner Kindheit das Augenlicht verlor, später aber dennoch Professor wurde und obendrein Optik lehrte.«
»Das ist allerdings bemerkenswert. Doch warum erscheint ein solches Buch anonym?«
»Der medizinische Aspekt dient nur zur Tarnung. In Wahrheit sind nicht wirkliche Blinde gemeint, vielmehr ist von einer ganz anderen Blindheit die Rede: vom Unvermögen der Menschen, die Wahrheit zu erkennen. Dabei wagt der Autor sich in gefährliche Regionen vor. Zum Beispiel fragt er, welche Vorstellungen von Gott ein Mensch überhaupt haben kann.«
»Und wie lautet die Antwort?«, wollte die Pompadour, hellhörig geworden, wissen.
»Dass wir wie die Blinden im Dunkeln tappen. Um Aussagen über Gott zu machen, so die These des Buches, müssten wir ihn tasten können.«
»Oh, ich begreife. Einer von diesen Deisten, die behaupten, an Gott zu glauben, ohne am Sonntag zur Messe zu gehen. Lassen Sie mir bitte das Buch da! Ich werde es noch heute an Père Radominsky weiterleiten. Ich bin sicher, meine Freundin, die Königin, wird es Ihnen danken. Übrigens«, fügte sie hinzu, als er den Band auf ihre Frisierkommode legte, »Sie haben neulich auf dem Maskenball eine ausgezeichnete Figur beim Tanz gemacht.«
»Zum Glück kommt man auch beim Tanzen voran«, seufzte er. »Selbst wenn man sich nur im Kreise dreht. Doch ist meine kleine Kunst nichts im Vergleich zu den Fortschritten, die Sie auf dem Parkett der Politik verzeichnen. Wie ich hörte, soll Alexandrine auf allerhöchsten Wunsch den Herzog von Picquigny heiraten?«
Die Tochter der Pompadour, die in einer Ecke des Ankleidezimmers leise für sich spielte, hob bei der Nennung ihres Namens den blonden Lockenkopf und strahlte. Obwohl noch keine fünf Jahre alt, war sie mit ihrem hübschen Puppengesicht das vollkommene Ebenbild ihrer Mutter.
»Erst nach ihrem dreizehnten Geburtstag«, erwiderte die Marquise. »Bevor die Familie des Herzogs allerdings in die Ehe einwilligt, muss der König noch den Vater des Bräutigams zum Erzieher des Dauphins ernennen.«
»Habe ich nicht gesagt, die Politik ist die Fortsetzung des Tanzes mit anderen Mitteln?«, fragte Malesherbes. »Hier wie dort kommt es darauf an, widerstreitende Bewegungen zu einer harmonischen zu verbinden.«
»Da haben Sie Recht«, seufzte sie. »Und in beiden Fällengeht es darum, einem Esel klar zu machen, dass er keiner ist. Aber wie ich sehe, haben Sie uns noch etwas mitgebracht?« »Hatten Sie mir nicht aufgetragen«, fragte er mit einem zweideutigen Lächeln zurück, während er ihr einen kleinen Oktavband reichte, »nicht nur
solche
Bücher für Sie aufzuspüren, sondern auch
solche?«
»Allerdings«, erwiderte sie streng. »Seine Majestät legt größten Wert darauf, alles zu erfahren, was im Land vor sich geht.« »Glücklich das Volk, dessen König sich persönlich mit den Geheimberichten der Polizei befasst!«, sagte Malesherbes. »Und glücklich der König, dem es vergönnt ist, sich auf diese Weise die Langeweile zu vertreiben.«
Entschlossen, seine Bemerkung zu überhören, nahm sie den Band entgegen. »
Die geschwätzigen Kleinode?«,
fragte sie und blätterte in den Seiten. »Ich muss sagen, die Titel, die Sie mir heute präsentieren, werden immer kurioser.«
»Eine abscheuliche Geschichte«, erwiderte Malesherbes. »Es fiel mir selten so schwer, ein Buch zu Ende zu lesen. Die Handlung, falls man von einer solchen sprechen kann, spielt am Hof eines orientalischen Herrschers und seiner Favoritin.«
»Ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht?«
»Eher eine Tollheit im Stil des
Decamerone.«
»Derlei Bücher sind mir unbekannt«, antwortete die
Weitere Kostenlose Bücher