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Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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Erleichtert bemerkte Sophie, während er seine Uhr aufzog, wie gut er roch, ganz sauber und frisch, als hätte er soeben gebadet.
    »Hast du Angst?«, fragte er und legte die Uhr beiseite.
    Sie nickte, ohne ihn anzuschauen.
    Behutsam berührte er ihre Schulter. »Das brauchst du nicht. Ich werde dir nicht wehtun. Wir müssen heute nicht – ich meine, wenn es das ist, wovor du Angst hast.«
    Sie spürte an seiner Hand, dass er genauso nervös war wie sie, und sein Gesicht drückte fast Dankbarkeit aus, als sie sein Lächeln erwiderte.
    »Ich werde dich nie zu etwas drängen, was du nicht möchtest. Das verspreche ich dir. Du … du kannst es selbst bestimmen, wenn du so weit bist.« Er öffnete die Schublade des Nachtkastens und holte daraus einen kleinen silbernen Ring hervor.»Darf ich?«, fragte er und nahm ihre Hand. Und während er ihr den Ring über den Finger streifte, sagte er: »Ich habe nur eine Bitte: Dass wir einander respektieren, wie es sich für Eheleute gehört, und dass keiner dem anderen einen Schimpf antut.«
    »Dann wollen Sie nichts tun, was die Liebe verlangt?«, fragte Sophie, unsicher, ob sie ihn richtig verstanden hatte.
    Sartine schüttelte den Kopf. »Die Liebe ist kein guter Ratgeber. Ich habe zu viele Menschen gesehen, die ihr gefolgt sind, um im Elend zu enden. Nein, ich bin mehr als reichlich damit beschenkt, dass ich dich zur Frau habe.«
    Er beugte sich über die Nachttischkerze und löschte das Licht. Dann legte er sich zu ihr.
    Sophie wagte kaum zu atmen, als sie seinen Körper an ihrer Seite spürte. Sartine bewegte sich ebenfalls kaum, gleichmäßig ging sein Atem, und doch wusste sie, dass auch er noch nicht schlief. Warum hatte er sie nicht berührt? Es war doch das Mindeste, was er von ihr verlangen konnte. Draußen rasselte hin und wieder eine Kutsche vorbei, mit verspäteten Theaterbesuchern und Spielern, die sich erst jetzt auf den Heimweg machten. Nacht für Nacht weckte das Geratter der Räder schlafende Bürger, und Sophie wusste, dass mancher Pariser diesem Lärm sein Leben verdankte, weil er nicht wenige Paare an den Vollzug ihrer Ehe erinnerte, der ihr in dieser Nacht erspart geblieben war.
    »Bist du noch wach?«, fragte er so leise, dass sie die Worte mehr ahnte als hörte.
    »Ja«, flüsterte sie.
    »Ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich ich bin.«
    Dabei nahm er ihre Hand, und obwohl es das erste Mal war, dass er es tat, schien ihr diese Berührung so vertraut, alswürden sie schon seit Jahren zusammengehören. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihr aus, ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, ein Gefühl, das sie für alle Zeiten verloren geglaubt hatte. Mit einem Seufzer erwiderte sie den zarten Druck seiner Hand. Nein, er war kein Fremder, er war ihr Mann, und sie fühlte sich ihm näher als jedem anderen Menschen, seit ihre Mutter nicht mehr am Leben war.
    Plötzlich hatte Sophie das Bedürfnis zu reden, ihm ihre Geschichte zu erzählen, ihm zu sagen, wer sie war, und bevor sie wusste, was sie tat, fing sie an zu sprechen, leise flüsternd, wie zu sich selbst, während draußen der Nachtwächter sein müdes Lied sang. Vom Tag ihrer ersten heiligen Kommunion sprach sie, von dem Prozess, den man ihrer Mutter gemacht hatte, weil sie den Leib Christi erbrochen hatte, von dem Mann mit dem Federhut … Und später, tief in der Nacht, als die Straßenlaternen längst erloschen und die letzten Kutschen vorübergerollt waren, erzählte sie vom schlimmsten Tag ihres Lebens, dem Tag, an dem man ihre Mutter hingerichtet hatte, erzählte von der großen Einsamkeit, die Madeleine umgeben hatte, als sie im Schandlinnen auf dem Richtplatz stand, an beiden Händen gefesselt und für immer von Sophie getrennt, erzählte von dem bunten Tuch am Hals ihrer Mutter, das wie zum Spott im Wind flatterte, von der Katze, die in weiten Sätzen von dem Gerüst floh, als würde sie von tausend Teufeln gehetzt, während die Flammen in die Höhe schlugen.
    Sartine unterbrach sie kein einziges Mal; schweigend und aufmerksam hörte er ihr zu, bis sie zu Ende gesprochen hatte.
    »Bist du darum nach Paris gekommen?«, fragte er sie dann.
    »Ich weiß nicht«, sagte Sophie, überrascht von seiner Frage. »Aber vielleicht, ja, ich glaube, Sie haben Recht. Es war wieein Zwang, ich musste einfach nach Paris, seit ich von zu Hause fort bin. Aber wie konnten Sie das wissen?«
    »Vielleicht kann ich dir helfen«, sagte er.
    »Helfen? Wie? Es ist doch alles so lange her, und meine Mutter

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