Die Philosophin
Gefühl, endlich wieder ein Mann zu sein, fing er an zu schreiben.
19
»Es ist die Krankheit dieser Zeit, den Glauben vor den Richterstuhl der Vernunft zu zerren. Doch wer in das Himmelreich eingehen will, muss die Vernunft in den Dienst des Glaubens stellen. Der Glaube allein weist uns die Richtung und das Ziel …«
Sollte doch alles zu einem guten Ende kommen? Groß und erhaben wie das Himmelreich, von dem Pater Radominsky mit mächtiger Stimme kündete, war die Kathedrale von Notre-Dame, in der Sophie an diesem Sonntagmorgen der heiligen Messe beiwohnte. Unweit der Kanzel saß sie in ihrer Bank, Auge in Auge mit dem Prediger, dessen Blicke und Worte wie Blitz und Donner auf sie herabfuhren. Seine Rede traf sie, als würde er direkt in ihr Herz schauen und all die Anfechtungen sehen, die sie in den letzten Wochen heimgesucht hatten und denen sie beinahe erlegen war.
»Hört ihr nicht immer noch das Zischeln der Schlange, wenn ihr zaudert, ob ihr dem Herrn folgen sollt oder aber euren Gelüsten? Vergesst nicht, das Begehren des Fleisches richtet sich gegen den Geist. Beide stehen sich als Feinde gegenüber, sodass ihr nicht imstande seid, das zu tun, was Gottes Wille ist …«
Sophie öffnete ihr Ohr und ihr Herz, damit die Worte Einlass in ihr fanden, um die letzten Zweifel ihrer Seele zu ersticken. Denn heute, am ersten Sonntag nach ihrer Heirat mit Antoine Sartine, würde sie endlich zum Tisch des Herrn gehen. Sie fuhr sich mit der Hand in den Nacken, um den Mückenschwarm zu vertreiben, den sie bei den Worten des Predigerszu spüren glaubte. War ihr an der Seite ihres Ehemannes doch ein kleines Glück beschieden?
»Wenn ihr nach dem Fleisch lebt, müsst ihr sterben. Wenn ihr aber durch den Geist die Sünde tötet, werdet ihr leben. Die Wollust ist der Stachel im Fleische. Alles im Fleische nährt sie, euch zur Sünde zu verleiten. Darum sollt ihr die Wollust hassen wie die Sünde selbst …«
Die Stimme des Paters füllte das gewaltige Gotteshaus. Klar und deutlich trug er seine Predigt vor, jedes Wort schien mit dem Meißel aus dem Fels der ewigen Wahrheit geschlagen. Wie wohltuend unterschied sich diese Rede von dem Geschnatter und Geschwätz, das Sophie sonst zu hören bekam, von den atemlosen, aufgebrachten Wortwechseln auf der Straße und im Café. Der Pater rollte das R, wie sie es tat. Auch er war kein Pariser, sein Dialekt würde im »Procope« so fremd und falsch klingen wie der ihre. Aber war das nicht ein Zeichen? Dass dies die Sprache der Wahrheit war, die Sprache des ewigen Gottes?
»Wer einer Frau gefallen will, kümmert sich um die Dinge der Welt, wer Gott gefallen will, der kümmert sich um die Sache des Herrn. Jeder aber hat seine Gnadengabe von Gott, der eine so, der andere so. Wegen der Gefahr der Unzucht soll also jeder seine Frau haben und jede ihren Mann. Doch glaubt darum nicht, die Ehe sei ein Ort, um der fleischlichen Begierde nachzugeben. Im Gegenteil! Die Ehe ist eine Arznei gegen das Übel, ein Mittel gegen die Wollust, auf dass ihr gemeinsam ablasst von der Sünde …«
Sophie fing an zu begreifen. War dies der Grund, warum Sartine sie in der Hochzeitsnacht unberührt gelassen hatte? Wollte er ihr mit seinem Beispiel vorangehen, den Stachel im Fleisch zu überwinden? Wie dankbar war sie, dass derHimmel ihr einen solchen Mann geschickt hatte. Während der Priester von der Kanzel stieg, um zur heiligen Wandlung zu schreiten, versprach sie leise flüsternd ihrem Gott, Sartine auf dem Weg des Heils zu folgen. Voller Andacht wartete sie auf die Kommunion.
»Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünden der Welt, erbarme dich unser!«
Endlich war der Augenblick da, auf den sie seit so vielen Jahren wartete. Das Schellengeläut ertönte, und mit gefalteten Händen verließ Sophie die Bank, um an den Tisch des Herrn zu treten, zum ersten Mal seit dem Tag ihrer Erstkommunion.
Als sie vor dem Altar niederkniete, hob Radominsky die Hostie in die Höhe.
»Der Leib Christi!«
»Amen!«, sagte Sophie, den strengen Blick des Paters fest erwidernd.
Dann schloss sie die Augen, und während sie die Hostie empfing, betete sie zu Gott, dass sie Denis Diderot nie wieder sehen würde.
ZWEITES BUCH
Vom Baum der Erkenntnis
1749
1
Den Schenkeln eines Engels, so hieß es, entsprang der große Fluss, der wie die Zeit selbst durch Paris strömte. Bis zu dreimal hundert Meter breit teilte er die Hauptstadt des Landes und verband sie zugleich mit dem Rest des Königreichs. Täglich
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