Die Philosophin
lässt er verkommen. Stimmt es, dass er dich verraten hat?«
»Verraten«, stotterte Diderot, »ist nicht das richtige Wort. Ihm blieb nichts anderes übrig. Sie hätten ihm sonst das Druckprivileg genommen, und alles wäre aus gewesen. Außerdem wussten sie auch ohne ihn, dass ich…«
»Wie? Was? Du verteidigst ihn auch noch? Das ist nicht zu fassen!« Nanettes Stimme schnappte vor Empörung über. Plötzlich fasste sie sich, und leise sagte sie: »Dann haben wir nur eine Wahl.«
»Nämlich?«, fragte er, obwohl er die Antwort im Voraus wusste.
»Du musst deinem Vater schreiben. Er wird uns helfen.«
»Das hat keinen Zweck.«
»Warum nicht? Er ist dein Vater!«
»Weil es keinen Zweck hat!«, wiederholte er ungeduldig. Er zögerte eine Sekunde, doch als er ihr vollkommen verständnisloses Gesicht sah, packte ihn die Wut: »Warum soll er dir helfen? Er weiß ja gar nichts von dir! Nicht mal, dass du existierst!«
»Was soll das heißen? Er weiß nichts von mir?«, fragte Nanette, als hätte er chinesisch mit ihr geredet. »Er ist doch… er hat doch…« Dann, mit quälender Langsamkeit, als würde ihr innerstes Wesen sich dagegen sträuben, drängte sich verzweifeltes Begreifen in ihre Ahnungslosigkeit. »Willst du damit sagen…, er weiß immer noch nicht…,
dass wir verheiratet sind?«
Die letzten Worte hatte sie laut geschrien, dann erstarb ihre Stimme. Tränen füllten ihre Augen, sodass ihr Blick verschwamm, während ihre Lippen, unfähig, noch ein Wort zu artikulieren, vor Erregung bebten.
Diderot schlug die Augen nieder. Ihr fassungsloses Schweigen, das nun die Zelle bis zum Bersten füllte, war noch schlimmer als ihr Gezeter zuvor.
Zum Glück dauerte Nanettes Sprachlosigkeit nicht an. »Du musst dem Kanzler schreiben«, sagte sie. »Du musst ihn um Gnade bitten. Den Kanzler oder den König oder sonst einen wichtigen Menschen.«
»Nein«, sagte Diderot.
»Was – nein?«
»Nein«, wiederholte er und schaute sie an. »Sie können mich hier im Gefängnis behalten, aber ich lasse nicht zu, dass sie sich zu Herren über mein Leben aufschwingen.«
Draußen näherten sich Schritte. Schlüssel rasselten, und mit lautem Knarren ging die Tür auf. In der Öffnung erschien der Wärter mit seinem Hund.
»Die Besuchszeit ist vorbei.«
Nanette rührte sich nicht. Über ihr hübsches Gesicht rannen Tränen. Fast tat sie Diderot Leid.
»Was bist du nur für ein Mensch?«, flüsterte sie.
Plötzlich drehte sie sich um, und ohne ein weiteres Wort eilte sie davon.
Am Boden, vor seinen Füßen, kopulierten zwei Kakerlaken. Wie ein Idiot schaute Diderot den beiden Tieren zu.
Das Bild war so trostlos und unerträglich wie die Ewigkeit.
13
Wie lange würde das Geld reichen, das er bei seiner Verhaftung eingesteckt hatte? Obwohl seine Zelle so eng und feucht war wie ein Brunnenschacht und keine zehn Quadratfuß maß, war sie so teuer wie eine Nobelherberge mitten in Paris. Um nicht mit Mördern und sonstigem Gesindel eingelocht zu werden, hatte Diderot nach einer Einzelzelle verlangt, die ihn nun sechzig Livres im Monat kostete. Hinzu kamen die Ausgaben für seinen Lebensunterhalt, den er aus eigener Tasche bezahlen musste. Im Gefängnis kostete alles doppelt so viel wie draußen in der Freiheit, als würde am Klappfenster seiner Zellentür eine Sondersteuer eingetrieben. Mit einer Mischung aus Rotwein und Schiefer, den er zu Staub verrieb, fabrizierte er eine Art Tinte, und ein Zahn-stocherdiente ihm als Feder, mit der er einen Brief an seinen Vater schrieb. Darin schilderte er sein ganzes Unglück, gestand zugleich seine Heirat mit Nanette und bat schließlich um Unterstützung für seine Familie. Gegen den Wochenlohn eines Postillons erklärte sich sein Wärter bereit, den Brief für ihn aufzugeben.
Aus einigen Bemerkungen des Gefängnisdirektors konnte Diderot schließen, dass er im Zuge einer umfassenden Generalmaßnahme verhaftet worden war. Eine ganze Armee von Schriftstellern und Philosophen saß offenbar zusammen mit ihm in der Festung, Doktoren der Sorbonne und Journalisten, Versemacher und Broschürenschreiber, Juristen und Abbés, denen man allesamt vorwarf, den König beleidigt zu haben. Von Auflehnung war die Rede, von Verbreitung des Deismus und Verletzung der guten Sitten. Doch der eigentliche Grund, das wusste Diderot, war ein anderer: Die Regierung brauchte Sündenböcke für die Unruhe, die in der Bevölkerung schwelte wegen der immer schärferen Steuern, die der Staat erhob, um
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