Die Philosophin
abgewetzten schwarzen Kutte.
»Abbé Morel?«
»Wer bist du?«, fragte der Pfarrer. »Ich habe dich noch nie in meiner Kirche gesehen.«
»Ich soll Ihnen Grüße von Sophie Volland ausrichten. Sie hat früher in Ihrer Gemeinde gelebt.«
Bei der Nennung des Namens ging ein Leuchten über das lederne, runzlige Gesicht.
»Sophie Volland … Ja, ich erinnere mich, ein aufgewecktes Mädchen. Sie konnte lesen wie ein Schriftgelehrter, viel besser als ich. Aber komm herein, mein Sohn! Du musst mir von ihr erzählen. Wo lebt sie? Was macht sie? Geht es ihr gut?«
Im Innern des Pfarrhauses stank es wie in einem Schweinestall, und in der Diele herrschte eine solche Unordnung, dass Sartine darauf achten musste, nicht über die Gegenstände zu stolpern, die überall auf dem Lehmboden verstreut lagen. Offenbar lebte der Abbé ohne weibliche Hilfe in dem niedrigen, dunklen Haus, denn er holte selbst eine Flasche und zwei Becher aus einem Schrank und schenkte ihnen ein.
»Pflaumenschnaps«, sagte er. »Selbst gebrannt. Den bekommen nur Ehrengäste.«
Seinen Ekel unterdrückend, setzte Sartine den schmutzigen Becher an die Lippen und kippte den Schnaps hinunter, während Abbé Morel sich weiter nach Sophie erkundigte.
Alles wollte er über sie wissen, ob sie regelmäßig die Messe besuche, ob sie verheiratet sei, ob sie Kinder habe.
»Wie?«, fragte er, als Sartine den Kopf schüttelte. »Gott hat eure Ehe noch nicht gesegnet? Vielleicht solltest du ihm ein bisschen nachhelfen?«
Er zwinkerte Sartine verschwörerisch zu. Dann begann er selber zu erzählen, in so breiter, umständlicher Ausführlichkeit, dass Sartine fast den Eindruck hatte, er wolle auf diese Weise andere Themen vermeiden: wie Sophie die Kinder im Dorf unterrichtet hatte, wie sie in der Katechismusstunde immer die Erste gewesen war, die den Finger hob und so kluge Antworten gab, dass auch Baron de Laterre auf sie aufmerksam wurde – ja, Abbé Morel glaubte sogar, sich an ihre Taufe zu erinnern. So dauerte es fast eine Stunde, bis Sartine endlich Gelegenheit fand, auf den eigentlichen Grund seines Besuchs zu sprechen zu kommen.
Im selben Augenblick verdüsterte sich die Miene des Pfarrers, und ernste Trauer füllte seine alten Augen. »Mein Gott! Wie lange ist das her? Fast zehn Jahre! Es war der letzte Scheiterhaufen, der hier brannte, das ganze Tal war auf den Beinen.«
»Gibt es noch Unterlagen? Akten? Dokumente?«
»Komm mit, ich zeige sie dir.«
Mit müden, schleppenden Schritten, als laste die ganze Vergangenheit auf seinen Schultern, führte der Pfarrer Sartine in die Sakristei. Dort öffnete er einen riesigen Schrank, der von vergilbten Papieren überquoll. Sartine staunte, wie schnell der alte Mann in den ungeordneten Stößen die richtigen Dokumente fand.
»Hier, das müssen sie sein«, sagte Abbé Morel und legte ein dickes Bündel auf den Tisch. »Der Malefizprozess gegen dieNäherin Madeleine Volland. Eine schlimme Geschichte, aber Gott hat es so gewollt.«
»Was genau warf man ihr vor?«
»Sophie hatte den Leib des Herrn erbrochen – das arme Kind.« Die Stimme des Priesters zitterte, und mit seiner knochigen Hand wischte er sich über die Augen. »Danach beschuldigte man ihre Mutter der übelsten Vergehen. Angeblich hatte sie einen jungen Mann verhext, einen Gast des Barons. Er hat im Prozess gegen sie ausgesagt. Aus Rache, behaupteten manche später.«
»Aus Rache?«
Der Pfarrer nickte. »Es hieß, er habe ein Auge auf Madeleine gehabt, doch sie wollte seine Zuneigung nicht erwidern.«
Sartine horchte auf. Das war ein plausibles Motiv. Wenn eine Frau die Liebe eines Mannes verschmähte, war dieser zu allem imstande – wie oft hatte er das in seiner Laufbahn schon erlebt.
Mit vor Aufregung rauer Stimme sagte er: »Können Sie sich erinnern, Ehrwürdiger Vater, wie dieser Mann hieß?«
Abbé Morel schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, er war nicht von hier. Ein Edelmann aus Paris. Vielleicht kannst du es selbst herausfinden, hier steht alles aufgeschrieben, was damals geschah.«
Er zeigte auf die Akten, dann verließ er die Sakristei und ließ Sartine allein in dem kühlen kleinen Raum zurück.
Der Inspektor blies den Staub von dem Bündel, bevor er die Schnürung öffnete. Sorgfältig sichtete er das Material. Ja, es war alles da: die Anklageschrift, die Protokolle der Zeugenvernehmung, das Urteil. Er schichtete die Unterlagen in mehreren Stößen vor sich auf den Tisch, dann begann er zu lesen. »Die Näherin
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