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Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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flackerten wie im Fieber. Am Fenster blieb er plötzlich stehen, seine Züge entspannten sich, und den geweiteten Blick hinaus in die Ferne gerichtet, als würde er dort eine fremde Landschaft erblicken, flüsterte er: »Der Mensch ist frei geboren, doch überall liegt er in Ketten … Was für ein Gedanke! Ich sehe wilde Tiere vor mir, die aus dem Urwald hervorbrechen, rieche das Feuer von Scheiterhaufen, auf denen die alte Ordnung verbrennt.« Fast schien er im Delirium. Doch so plötzlich, wie dieser entrückte Zustand über ihn gekommen war, fiel er wieder von ihm ab, und der abwesende Ausdruck verschwand aus seinem Gesicht. Mit einem Ruck drehte er sich um. »Ruf den Wärter! Ich will raus.«
    »Weshalb? Musst du pinkeln? Der Abtritt ist hinter dem Vorhang.«
    »Nein. Ich kann nicht länger bleiben. Ich muss zurück nach Paris. Auf der Stelle!«
    »Aber du bist doch gerade erst gekommen!«
    »Die Pflicht ruft. In mir entsteht ein neues Universum, ichfühle es, spüre es, weiß es! Ich … ich … ich bin ein neuer Mensch!«
    Ohne eine Antwort abzuwarten, rief er selbst nach dem Wärter.
    »Übrigens«, sagte er, schon in der Tür. »Ich habe gestern Madame de Puisieux im ›Procope‹ gesehen.«
    »Ja, und?«, fragte Diderot. »Kommt sie mich besuchen?«
    »Besser, du wartest nicht auf sie. Sie betrügt dich. Sie hat einen anderen.«
    »Anderen – was?«, stotterte Diderot.
    »Liebhaber«, sagte Rousseau und grinste.
    An diesem Abend zündete Diderot eine Kerze an und schrieb einen langen Brief. Es war der verlogenste Brief seines Lebens, und doch schrieb er ihn reinen Gewissens. Weil er die einzige Möglichkeit war, sein Leben zu retten.

14
     
    Schnell wie der Wind raste die sechsspännige Diligence über die gepflasterte Chaussee dahin. Antoine Sartine hatte, um seine schmale Kasse zu schonen, mit einem der billigen Plätze auf dem Dach der Kutsche vorlieb genommen, wo wegen der atemberaubenden Geschwindigkeit die Passagiere alle Augenblicke in die Höhe flogen, sodass es beinahe ein Wunder war, wenn sie immer wieder zurück auf ihre Sitze und nicht daneben fielen. Trotzdem erfüllte ihn die Reise in die Heimat seiner Frau mit grenzenlosem Stolz auf das Land, in dem er lebte. Abgesehen vom Besuch bei einem Onkel inder Normandie in jungen Jahren, hatte er sich nie weiter als eine Tagesreise von Paris entfernt. Mit umso größerem Staunen erfuhr er nun, wie unermesslich groß das Königreich Frankreich war. Dörfer und Städte zogen an ihm vorbei, in fruchtbaren Tälern und auf anmutigen Hügeln gelegen, Gärten und Wiesen, Felder und Äcker, Wälder und Weinberge. Doch wohin auch immer Antoine Sartine seinen Blick schweifen ließ, überall erkannte er das tätige Werk von Menschen wieder, die mit der Arbeit ihrer Hände die Natur kultiviert hatten, um Gottes Schöpfung zu vervollkommnen.
    Am meisten beeindruckte ihn das Streckensystem – ein Genie musste es ersonnen haben! Mit Basalt und Kalkstein befestigte Postrouten verbanden alle wichtigen Orte im Land, wobei die verschiedenen Strecken unterteilt und durch zentrale Knotenpunkte verknüpft waren. An diesen Relaisstationen wurden die Pferde gewechselt, und die Passagiere konnten eine Mahlzeit zu sich nehmen oder übernachten. Stundengenaue Abfahrtszeiten, die an den Billettschaltern aushingen, sowie pünktlich aufeinander abgestimmte Fahrpläne machten das Reisen in präzisester Weise planbar. Was für ein wunderbarer Fortschritt!
    Erst in Roanne musste Sartine die Postkutsche verlassen, um die letzten Meilen bis Beaulieu auf einem Ochsenfuhrwerk zurückzulegen, das unerträglich langsam durch die Weinberge rumpelte, wo Bauern mit ihren Tagelöhnern in der noch warmen Oktobersonne die Reben ernteten. Auf dem holprigen Karren spürte Sartine mit seinem von der Reise lädierten Körper schmerzhaft jedes Schlagloch, doch als er nach einer Wegbiegung den Kirchturm von Beaulieu erblickte, der sich in den blauen Herbsthimmel erhob, fiel alle Mühsal von ihm ab. Endlich würde er Gelegenheit haben, Sophie seine Liebezu beweisen – eine Liebe, die unendlich wertvoller war als die viehischen Vergnügungen, die andere Männer mit ihren Frauen teilten. Er hoffte nur, dass der Dorfpfarrer noch lebte. Noch bevor er eine Herberge bezog, suchte Sartine das Pfarrhaus auf. Mit klopfendem Herzen pochte er gegen die Tür.
    Kurz darauf hörte er schwere, schlurfende Schritte, dann ging die Tür auf. Vor ihm stand ein hoch gewachsener, grobknochiger Greis in einer

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