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Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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lauter Dinge zu finanzieren, die den Untertanen ein Dorn im Auge waren: das riesige Heer, den Luxus am Hof, die Verschwendungssucht der regierenden Favoritin Marquise de Pompadour. Da bot sich als bequeme Maßnahme an, alle Freidenker zu inhaftieren, deren man habhaft werden konnte. Sie wurden in der Öffentlichkeit als das Ungeziefer im Gebäude des Staates denunziert, das man ausmerzen konnte, wie es Diderot mit dem Ungeziefer in seiner Zelle versuchte.
    Wie lange würde er das noch ertragen?
    Er hockte gerade am Boden, wo er ein mit Sirup bestrichenes Brettchen als Steg an einen Topf anlegte, als er unverhofft Besuch bekam.
    »Was machst du da?«, fragte Rousseau und starrte auf ihn herab.
    »Ich baue eine Falle. Für die Kakerlaken.«
    Rousseau trat mit dem Fuß gegen die Konstruktion.
    »Hör zu! Ich brauche deinen Rat!«, sagte er, nachdem sie einander umarmt hatten. Sein Gesicht glühte, als habe er den Weg von Paris nach Vincennes im Laufschritt hinter sich gebracht.
    »Ist wieder eine Oper von dir durchgefallen?«, fragte Diderot.
    »Ich schreibe keine Opern mehr. Hier – lies selbst! Das stand heute im
Mercure.«
Rousseau zog eine Zeitung aus seinem Rock und hielt sie ihm vors Gesicht.
    »Eine Preisschrift?«
    »Von der Akademie in Dijon. Ob der Fortschritt der Wissenschaften und Künste zur Verderbnis oder zur Läuterung der Sitten beigetragen hat.«
    »Ist das die Frage?«, erkundigte sich Diderot ohne wirkliches Interesse.
    »Ja«, sagte Rousseau und nahm die Perücke vom schweißnassen Kopf. »Ich spüre, hier ruft mich die Vorsehung beim Namen.«
    »Und wie willst du antworten?«
    »Natürlich im Sinn des Fortschritts!«
    »Du meinst, dass Wissenschaft und Kunst die Sitten befördern? Bist du dir da so sicher?«
    »Du etwa nicht?«, fragte Rousseau zurück, vollkommen überrascht.
    Diderot zuckte die Achseln. »Jeder Esel, der sich an dem Wettbewerb beteiligt, wird in die Fanfare des Fortschritts stoßen. Wo ist da der Witz? Wenn du den Preis gewinnen willst, musst du eine Partei ergreifen, die sonst keiner einnimmt.«
    »Du rätst mir, mich gegen den Fortschritt zu stellen? Ausgerechnet du? Ich dachte, deine Enzyklopädie ist die Bibel der Zukunft!«
    »Siehst du nicht, wohin der Fortschritt mich gebracht hat?«, erwiderte Diderot. »Direkt ins Gefängnis! Und ich bin nicht sein einziges Opfer. Alles, was die Menschen erfunden haben, hat die Gesellschaft gegen sie missbraucht. Die Wissenschaften, der Handel, die Schifffahrt – wurden sie nicht immer wieder zur Quelle des Elends und der Zerstörung? Der Kompass, die Bergwerke, das Schießpulver – haben sie nicht ebenso den Jammer der Menschen vermehrt wie ihre Glückseligkeit? Nein«, fuhr Diderot fort, als sein Freund protestieren wollte, »was wir Fortschritt nennen, ist meistens nur eine Folge von gefährlichen Irrtümern. Wirklicher Fortschritt ist nichts anderes als die Wiederherstellung der Dinge in ihren Naturzustand.«
    »Was willst du damit sagen? Soll ich mir etwa einen Bart wachsen lassen?«
    »Ich meine es Ernst«, sagte Diderot. Er dachte kurz nach, um einen passenden Vergleich zu finden, dann fuhr er fort:
    »Die Natur liegt vor uns wie ein aufgeschlagenes Buch, mit all ihren Gesetzen. Doch wir sind nicht imstande, in diesem Buch zu lesen. Und warum? Weil der Text darin im Laufe der Zeit immer unleserlicher geworden ist. Die Buchstaben sind kaum noch zu entziffern, verblasst und verschwommen wie Tintenschrift, über die man einen Becher Wasser gegossen hat.«
    »Du meinst«, sagte Rousseau, allmählich begreifend, »der Fortschritt ist das Wasser, in dem die Schrift der Natur verschwimmt? Aber damit stellst du ja alles auf den Kopf, was wir bisher glaubten und dachten!«
    »Und wenn schon«, erwiderte Diderot. »Nimm mich, schau mich an! Seit über einem Monat hause ich in diesem Loch!«
    »Was hat das mit Fortschritt zu tun?«
    »Begreifst du denn nicht? Bei der Geburt sind alle Menschen frei – der erste Zustand, den sie von Natur aus erwerben, ist der Zustand der Freiheit. Doch was wird daraus, wenn sie anfangen zu leben? Wohin man schaut, wird die Freiheit unterdrückt. Das habe ich hier begriffen. – Aber was hast du?« Noch während er sprach, fing Rousseau an, sich so sonderlich zu benehmen, als würden seine sämtlichen Gebrechen ihn gleichzeitig befallen. Unverständliche Laute stammelnd, ging er in der Zelle auf und ab, fasste sich an den Kopf, ballte die Fäuste, das Gesicht voller Angst und Zorn, und seine Augen

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