Die Philosophin
genossen hatte, spürte ihr Verlangen, ihre Begierde, die grenzenlose Wollust ihres Fleisches, die zu entfachen ihm nie vergönnt gewesen war und die nun in einem letztenSeufzer verebbte, um ihm für immer die Freude am Leben zu nehmen.
Unsäglich war die Wut, die Antoine Sartine erfasste: Wut auf seinen elenden, nutzlosen Körper, Wut auf die Frauen dieser Welt.
Vor allem aber Wut auf Sophie.
DRITTES BUCH
Die Verbotene Frucht
1751–1752
1
Ein herrlicher Junitag brach an, ein Tag so strahlend schön, als wäre die Welt an diesem Morgen erst erschaffen worden. Von einem leuchtend blauen Himmel, an dem keine einzige Wolke den Blick auf die Unendlichkeit verstellte, schien die Sonne in so verschwenderischer Fülle auf Paris herab, als wolle sie die Stadt in ihrem Glanz ertränken. Auf den Giebeln der Kirchen und Häuser jubilierten Heerscharen von Spatzen und priesen den jungen Tag, während die Fluten der Seine in Millionen und Abermillionen Lichtreflexen den hellen Glanz der Sonne widerspiegelten.
Wohlig räkelte sich der Krake Paris in den wärmenden, Leben spendenden Strahlen, strotzend vor Kraft und Schaffenslust. Schon um neun Uhr in der Frühe schien die ganze Stadt auf den Beinen. An den Straßenecken versorgten Schankfrauen mit großen Weißblechkannen die vorübereilenden Arbeiter und Handelsgehilfen für zwei Sous mit gesüßtem Milchkaffee, den diese aus irdenen Töpfen im Stehen tranken. Selbst die Gassen des Quartier Latin, das seinen Namen daher hatte, weil hier im Schatten der alten, ehrwürdigen Universität Sorbonne die Studenten und Professoren in lateinischer Sprache das Wissen der Menschen bewahrten und mehrten, waren bereits zu dieser frühen Stunde von so rastloser Tätigkeit erfüllt, als gelte es, ein neues Buch des Lebens zu schreiben.
»Obacht! Aus dem Weg!«
Nur mit einem beherzten Satz konnte ein Mann auf der Place Michel sich vor einem Kabriolett in Sicherheit bringen, das über den Platz jagte, ohne Rücksicht auf den übrigen Verkehr.Wütend reckte er dem davonrasenden Einspänner die Faust hinterher, während die Passanten sich verwundert nach ihm umdrehten. Denn sein Äußeres zog noch größere Aufmerksamkeit auf sich als seine drohende Gebärde. Gekleidet in eine armenische Tracht, trug er trotz der sommerlichen Wärme eine Bärenfellmütze auf dem Kopf, und seine zornigen Augen blitzten aus dem Gestrüpp eines dunklen Vollbarts hervor, das sein Gesicht fast vollständig bedeckte.
Schon seit dem frühen Morgen, kaum dass die ersten Boutiquenbesitzer ihre Läden geöffnet hatten, streifte er durch das Quartier, in dem die Bibliotheken und Buchverleiher, die Verleger und Drucker beheimatet waren. Selber Literat von einiger Reputation, beäugte er voller Argwohn die Menschenmenge, die sich von der Werkstatt des Verlegers Le Bréton in der Rue de la Harpe bis auf die Gasse zurückstaute. All die Professoren und Studenten, die Schriftsteller und Abbés, die Advokaten und Philosophen, die so heftig miteinander disputierten, als stehe ein neues Zeitalter bevor, hatten nur ein Thema: Der erste Band der Enzyklopädie – seit über einem Jahr angekündigt, von manchen gefürchtet wie eine Sendschrift des Antichrist, von anderen herbeigesehnt wie eine zweite Offenbarung – wurde an diesem Morgen erstmals an die Subskribenten ausgeliefert.
Während ein Dutzend Lehrlinge mit frisch gedruckten Bogen durch das Gewühl hastete, tippte der Armenier einem Studenten auf die Schulter.
»Ich habe gehört, das Werk enthalte revolutionäre Artikel zum Thema Musik. Sogar von einer völlig neuen Notenschrift soll die Rede sein.«
Der Student drehte sich um und schaute ihn an, als käme er geradewegs aus dem Orient.
»Wen interessiert schon Musik?«, fragte er. »Auf die Vorrede kommt es an! Da werden Ketten zerbrochen! Vorhänge zerrissen! Doktrinen zerschlagen! Zitadellen geschleift!«
»Woher wollen Sie das wissen? Die Bogen sind doch gerade erst gedruckt!«
»Das weiß doch jeder«, erwiderte der Student und sah ihn mitleidig an. »Aber ich will es selber lesen. Mit meinen eigenen Augen.«
Der Armenier kannte die Vorrede selber längst auswendig – ein Text wie ein Schlachtruf. Der Neid fraß wie Säure in seinen Eingeweiden: Warum hatte man nicht ihn, wie vor langer Zeit vereinbart, die Vorrede schreiben lassen? Statt des albernen Fortschrittswahns, der nun darin gepriesen wurde, hätte er der Menschheit die Wahrheit verkündet: dass alles, was die Gesellschaft je hervorgebracht
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