Die Philosophin
hatte, nun gegen die Natur missbraucht wurde; dass die Errungenschaften der Wissenschaften und Künste immer wieder zu Quellen des Elends und der Zerstörung geworden waren, dass der Kompass, die Bergwerke und das Schießpulver den Jammer der Menschen ebenso vermehrt hatten wie ihre Glückseligkeit … Aber man hatte ihm nicht vertraut … Diesen Verrat konnte er Denis Diderot nicht verzeihen, auch wenn der Herausgeber der Enzyklopädie sich zehnmal sein Freund nannte.
»Vorsicht! Aus dem Weg!«
Diesmal kam die Warnung zu spät. Eine riesige Dogge, die der Equipage ihres Herrn vorauseilte, rannte den Armenier über den Haufen. Ohne dass der Eigentümer des Gefährts ihn eines Blickes würdigte, lag der Gefallene am Boden, hilflos wie ein Käfer auf dem Rücken. Der Student reichte ihm seine Hand.
»Sie könnten sich wenigstens bedanken«, sagte der junge Mann, als der andere wieder auf den Beinen stand.
»Ich habe Sie nicht um Hilfe gebeten!«, erwiderte der Armenier gereizt und klopfte sich den Staub von seiner Tracht.
»Jean-Jacques Rousseau hat noch nie einen anderen Menschen gebraucht!«
2
»Hat sie es tatsächlich geschafft!«, zischte die Königin und blickte mit angstvollen Augen von dem Folianten auf, der aufgeschlagen auf ihrem Schoß lag. »Obwohl ihr Vater noch vor dem Galgen ins Ausland fliehen musste!«
»Wie belieben, Majestät?«, fragte ihre Freundin, die uralte Herzogin de Luynes, und hielt ihr Hörrohr ans Ohr, während ihr Bruder, der nicht weniger alte Kardinal de Luynes, der mit seiner spitzen Nase in dem weißen, faltigen Gesicht sowie den rosa gepuderten Wangen ihr vollkommenes Ebenbild war, leise schnarchend in einem Sessel an ihrer Seite schlief. »Die Pompadour!«, brüllte die Königin, ohne Rücksicht auf ihre schlafende Gesellschaft. »Der neue Hofalmanach führt erstmals ihre Tochter Alexandrine auf. Wie eine echte Prinzessin. Jetzt steht ihrer Heirat mit dem Herzog von Picquigny wohl nichts mehr im Wege.«
»Gott bewahre!«
Während die Königin und ihre Freundin gleichzeitig das Kreuzzeichen schlugen, wandte Pater Radominsky, der ein wenig abseits an einem Kamin saß, sich wieder seiner eigenenLektüre zu. Der Hofalmanach, der alljährlich aufs Neue erschien, verzeichnete zwar den gesamten Adel des Landes, die Götter dieser Erde, die Minister und Marschälle, die Prinzessinnen und Herzoginnen, alle Günstlinge des Glücks, doch der Pater wusste, dass der Foliant, den er gerade in Händen hielt, ein druckfrisches Exemplar der Enzyklopädie, das sein Buchbinder ihm am Morgen gebracht hatte, von ungleich größerer Bedeutung für die Zukunft des Königreichs war als jenes Kompendium der Eitelkeiten, das ja nur über Wohl und Wehe der Hofgesellschaft entschied.
»Die Philosophen haben es gewagt«, las er in der Vorrede, »das Joch der Scholastik abzuschütteln und mit ihm die Autorität, die Vorurteile und Barbarei. Sie haben als Erste den Mut aufgebracht, sich gegen eine despotische und willkürliche Macht zu erheben, in Vorbereitung einer Revolution, die den Grund zu einer gerechteren und glücklicheren Regierung legte …«
Jedes Wort war ein Aufruf, die Bastionen von Kirche und Staat zu stürmen. Radominsky schwankte zwischen Bewunderung und Entsetzen. Der neue Baum der Erkenntnis, der das Vorsatzblatt zierte, war ein genialer Entwurf – und zugleich die Bestätigung, wie gefährlich das ganze Unternehmen war. Im System der Enzyklopädisten waren Vernunft und Erfahrung an die Stelle der göttlichen Offenbarung als Quelle aller Erkenntnis getreten, die Theologie aber, seit Jahrhunderten die höchste aller Wissenschaften, war in dem neuen Wissensbaum zu einem kleinen unscheinbaren Ast verdorrt. Jenseits der Zweige dieses Baumes, so lautete die unverhüllte Botschaft, gab es kein gesichertes Wissen mehr. Damit waren die Lehren der Kirche hinter die Grenzen überprüfbarer Wissenschaft verbannt, und die neuen Grenzwächter,die als Hüter der Wahrheit die Theologen abzulösen suchten, waren keine anderen als die Philosophen. Radominsky rieb sich mit den Fingerspitzen die Schläfen. Was für ein großer, fehlgeleiteter Geist! Was hätten er und Diderot gemeinsam leisten können! Stattdessen musste er nun mit den verhassten Jansenisten gemeinsame Sache machen, den alten Widersachern der Jesuiten in der Kirche, am Hof und im Parlament, um die von den Philosophen drohende Gefahr abzuwenden. Er warf einen skeptischen Blick auf die Königin und ihren ältesten Sohn
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