Die Philosophin
Entgeistert schaute er sie an. Sein Mund klappte auf und zu, ohne dass er einen Ton sagte, dann aber brach die ganze Wut aus ihm hervor. »Ja, zum Teufel, ja«, schrie er. »Ja! Ja! Ja! In Dreiherrgottsnamen! Ich habe Diderot zur Anzeige gebracht, warum nicht? Er hat es nicht anders verdient. Oder was glaubst du, wofür man mich bezahlt? Damit solche Verbrecher dahin kommen, wohin sie gehören: hinter Schloss und Riegel.«
»Dann ist es also wahr«, flüsterte Sophie entsetzt. »Und ich habe dir seinen Namen gesagt …«
»Ja und? Was soll daran schlecht sein? Freu dich lieber! Darauf kannst du stolz sein! Damit hast du einmal in deinem Leben etwas für mich getan, wenigstens dieses eine verfluchte Mal! Außerdem, wie kommst du dazu, mir Vorwürfe zu machen – ausgerechnet du? Die ganze Zeit hast du mich hintergangen und so getan, als könntest du nicht lesen, dabei …«
Mitten im Satz verstummte er. Er riss die Augen auf, seine Nasenflügel bebten – wie ein Tier, das eine Gefahr wittert. Im nächsten Moment schoss er zum Herd und hob den Deckel von der Kasserolle.
»Eine Ente? Für uns?«, fragte er, plötzlich auf unheimliche Art beherrscht, mit kalter, scharfer Stimme. Er nahm die Flasche, die neben dem Herd stand. »Und Portwein? Sieh mal an! Woher hast du so viel Geld?«
»Das hatte ich gespart«, sagte Sophie. »Mein Notgroschen. Ich wollte dich überraschen.«
»Gespart? Du? Wovon?« Er lachte laut auf. »Gib dir keineMühe, ich weiß, woher das Geld stammt. Daher also deine Sorge, dein Mitgefühl.«
»Ich weiß nicht, wovon du redest.«
»Und ob du das weißt! Dieser Diderot hat dir das Geld gegeben! Er hat dich bezahlt!«
»Diderot?«, fragte Sophie, vollkommen fassungslos. »Mich bezahlt? Warum?«
»Weil du mit ihm unter einer Decke steckst. Weil du«, er machte eine Pause, bevor er den Satz zu Ende sprach, »weil du seine Hure bist!«
Sophie wollte etwas erwidern, doch diese unglaubliche, unfassbare Anschuldigung traf sie so unerwartet, dass ihr die Worte im Hals stecken blieben.
»Wenn du dich nur selber sehen könntest«, sagte er voll abgrundtiefer Verachtung. »Halt den Mund, du kannst dir die Antwort sparen, sie steht dir ins Gesicht geschrieben. – Ja, du bist seine Hure.«
17
Der Nebel war so dicht, dass Sophie keine zwanzig Schritt weit sehen konnte. Ohne Richtung und Ziel lief sie durch die von milchigen Schwaden verhangenen Gassen, hilflos irrend wie einst als Kind im Labyrinth des Barons de Laterre. Sie hatte nur einen Wunsch: Sie wollte fort, so rasch wie irgend möglich, fort von ihrem Zuhause, das nicht mehr ihr Zuhause war, fort von ihrem Mann.
Als blasse Schemen erhoben sich die Gebäude rings um sieher, unwirklich wie im Traum, während der Nebel den Schall ihrer Schritte verschluckte wie die Rufe der Marktfrauen und Händler, der Wasserträger und Schuhputzer. Aus dem Nichts tauchten Fuhrwerke, Kutschen und Sänften vor ihr auf, und immer wieder stieß sie mit fremden Menschen zusammen, die richtungslos wie sie selbst umherirrten, während die Fackeln, die an den Hausecken brannten, die weiße Finsternis nur noch zu vermehren schienen. Bald würde man die Blinden vom Hospiz Quinze-Vingts holen, damit sie die Sehenden durch die Stadt führten.
Am Pont Neuf überquerte Sophie die Seine. Wenig später hörte sie ein ersticktes Johlen und Schreien, das offenbar ganz nahe war, doch nur gedämpft an ihr Ohr drang, wie durch eine Wand von unsichtbaren Lappen und Tüchern. Brandgeruch lag in der Luft, der scharf in ihre Nase stieg. Wo war sie? Einen Steinwurf entfernt musste das Châtelet sein, der Sitz des Gerichts, vor dessen Fassade sich tanzende Schatten im Nebel erhoben. Rasch ging sie weiter, doch plötzlich, als hätte jemand einen Schleier fortgezogen, erblickte sie ein Feuer, dessen Flammen hoch in den Himmel schlugen, umringt von einer hundertfachen Menschenmenge.
Sophie beschleunigte ihre Schritte. Nein, das wollte sie nicht sehen! Wann immer sie konnte, mied sie diesen Platz, auf dem die Verbrecher der Stadt hingerichtet wurden: Diebe und Giftmischer, Kirchenschänder und Totmacher. Doch sosehr sie sich beeilte, wieder in den alles verhüllenden Nebel einzutauchen, konnte sie den Blick doch nicht von dem Feuer abwenden.
Was waren das für sonderbare Dinge, die da geschahen?
Eine Prozession schwarz gewandeter Richter kam aus dem Nebel gezogen, gefolgt von einem Schinderkarren. Doch keinegefesselten Gefangenen flehten hinter den Gitterstäben um Gnade,
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