Die Philosophin
niederzuschreiben.«
»Ach, warum habe ich das nicht gewusst? Kannst du mir je verzeihen?«
»Es gibt nichts zu verzeihen, Sophie. Ich habe meine Strafe tausendfach verdient!« Er nahm ihren Kopf zwischen seine Hände, tat es ohne zu zögern, so einfach und selbstverständlich, als könnte es gar nicht anders sein. »Nur eins musst du mir sagen. Warum hast du geheiratet? Es war, als hätte mir jemand ein Messer ins Herz gestoßen.«
»Hast du es nicht gewusst?«, fragte Sophie.
»Nein. Ich habe immer wieder darüber nachgedacht, aber keine Antwort gefunden. Bitte, sag es mir, ich muss es wissen.«
Sophie zögerte. Ganz leise, wie aus weiter Ferne, hörte sie die Wellen der Seine ans Ufer schlagen. Dann sagte sie: »Weil ich Angst vor dir hatte, Denis.«
»Angst? Vor mir?«
Sophie nickte stumm.
»Aber weshalb?«
»Weil … weil ich dich liebe …«
Er schaute sie an, ohne ein Wort zu sagen, doch seine Augen gaben ihr Antwort auf alle Fragen, die noch in ihr waren. Ohne die Augen von ihr zu lassen, beugte er sich zu ihr, um sie zu küssen.
»Wie kann man nur Angst vor der Liebe haben?«, flüsterte er, ehe ihre Lippen sich berührten.
Er schloß sie in die Arme und fing sie auf, während sie tiefer und tiefer zu fallen glaubte und gleichzeitig himmelwärts schwebte. Er bedeckte ihr Gesicht mit Küssen, Worte der Liebe und des Wahnsinns stammelnd, streichelteihre Arme, ihre Schultern, ihren Hals. Ja, ja, ja! Seine Hände glitten über ihren Rücken, ihre Taille, ihre Hüften, so leicht und sanft wie eine Verheißung und dabei so sicher und kraftvoll, dass sie keinen anderen Halt mehr wollte als diesen. Bei jeder Berührung zuckte sie zusammen, bei jeder Berührung öffnete sie sich. Mit einem Seufzer schloss sie die Augen. Alles Sehnen, das in ihr gebrannt hatte, Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr, schien ein Ende zu haben, um doch erst jetzt seinen wirklichen Anfang zu nehmen, in diesem unwirklichen Moment, da sie ihn spürte, da sie sich selber spürte wie noch nie zuvor. Sie war nur noch Haut, Fühlen und Empfinden, war nur noch Fleisch, Wollen und Begehren. Ihre Brüste, ihre Schenkel – ihr ganzer Körper, der nach dieser Lust gedürstet hatte, war für ihn bereit, mit jeder Pore, um ihn aufzunehmen, um mit ihm zu verschmelzen, um eins zu werden mit ihm, jetzt und für alle Zeit.
19
Keine zehn Schritt von ihnen entfernt, verborgen in den Nebelschwaden, die unaufhörlich von der Seine aufstiegen, als wollten die Fluten sich mit dem Himmel vermählen, stand Antoine Sartine und starrte in die Undurchdringlichkeit. Wie ein Sehender den Blinden, wenn alle Sicht unmöglich ist, war er den Liebenden gefolgt, vom Châtelet bis hierher, hinunter zum Fluss.
Er konnte sie weder sehen noch hören, nur ab und zu, wennder Dunst sich für einen Wimpernschlag zu lichten schien, erhaschte er einen Blick auf die zwei, und von den Worten, die sie tauschten, drangen Laute an sein Ohr. Und doch sah er alles, hörte er alles, fühlte er alles – viel deutlicher und schärfer, als es mit gewöhnlichen Sinnen möglich war. Denn jedes Bild, jeder Ton paarte sich mit den Ahnungen, die aus der klaffenden Wunde seines Herzens strömten. Mit brennender Seele durchlebte, durchlitt er die Vereinigung, die sich da vor ihm vollzog, nur einen Ruf entfernt, und die er doch nicht verhindern konnte. Er kannte das Gesicht dieser Frau, jeden Fleck, jede Sommersprosse auf ihrer Haut, kannte die Stimme des Mannes, die in den Kaffeehäusern von Paris den Aufruhr predigte. Gequält von unsäglichem Schmerz, ahnte Antoine Sartine, wie die zwei einander umfingen, wie sie sich streichelten und küssten und sich im Schutz des Nebels zu entkleiden begannen, ahnte es voller Ohnmacht und Entsetzen in der immer deutlicheren, immer fürchterlicheren Gewissheit, dass seine Ehe ein katastrophaler Irrtum war, dass er es hätte wissen müssen, dass ein gutes Ende gar nicht möglich gewesen war, niemals, zu keiner Zeit, dass vielmehr alles hatte kommen müssen, wie es sich nun in diesem Augenblick erfüllte … Ein Seufzer, dann ein Schrei, in dem sich alle Lust entlud, zerriss den Nebel. Das war die Frau, der er ein Heim geboten hatte, in selbstloser Liebe, ohne etwas von ihr zu verlangen, die Frau, die ihm geschworen hatte, ihm nie einen Schimpf anzutun und die ihn nun so schändlich verriet, in den Armen seines Feindes … Er sah ihr rotes Haar wie Flammen in dem weißen Dunst, sah die Schönheit ihres Leibes, die er selber nie
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