Die Philosophin
stattdessen türmten und stapelten sich dort Bücher über Bücher, in solchen Massen, wie Sophie noch nie welche gesehen hatte. Einer der Richter griff in den Bücherberg hinein und nahm einen Band, dann stieg er die Stufen zum Justizpalast hinauf und reichte das Buch einem Henker, der dort oben auf der Freitreppe in seinem Kapuzenmantel wartete. Ein Knecht rief mit lauter Stimme: »Denis Diderot!«
Als Sophie den Namen hörte, erschrak sie, wie wenn der Ruf ihr selber gälte. Was hatte das zu bedeuten? Für einen Augenblick glaubte sie durch die Schwaden von Nebel und Rauch ihre Mutter zu sehen, hoch oben auf dem Gerüst, mit kahl geschorenem Kopf, in ihrem Schandlinnen, an Händen und Beinen gefesselt – genauso wie sie sie zum letzten Mal gesehen hatte. Das Entsetzen schnürte ihr die Kehle zu.
Totenstille herrschte auf dem Platz. Der Henker hielt das Buch in die Höhe, um es den wartenden Menschen zu zeigen, die mit lüsternen Blicken zu ihm aufschauten.
»Im Namen Seiner Majestät des Königs übergebe ich die Schriften von Denis Diderot dem Feuer! Die
Geschwätzigen Kleinode,
die
Philosophischen Gedanken
und den
Brief über die Blinden.«
Mit einer einzigen Bewegung seiner gewaltigen Arme zerriss er das Buch, das ihm der Richter übergeben hatte, in zwei Teile, ging zu dem brennenden Scheiterhaufen und warf die Seiten in die lodernden Flammen. Wieder sah Sophie ihre Mutter, ihre Blicke trafen sich, es war, als würden Madeleines Lippen sich noch einmal bewegen, um ein Wort zu formen, eine letzte Botschaft, die sie ihr zurufen wollte.
»Aaaaahhhhhh …«
Wie eine Erlösung aus hundert und aberhundert Kehlen erhobsich ein Raunen. Sophie wollte fliehen, den schaurigen Ort verlassen, doch sie war unfähig, sich von der Stelle zu rühren, so wie sie unfähig war zu begreifen, was hier vor ihren Augen geschah. Die Richter brachten dem Henker weitere Bücher, wieder und wieder, mehr und mehr. Jeden Autor, jeden Titel verkündeten sie dem Volk, das johlend Beifall zollte, während das Feuer sich gierig weiterfraß, Buch um Buch, mit züngelnden, tänzelnden Flammen, als wollte es alles Leben vernichten, das in den Büchern aufgezeichnet war. Wie gelähmt stand Sophie da und schaute der Hinrichtung zu. Sie roch nicht den Geruch des Feuers, spürte nicht die Nässe in ihrem Gesicht, sah nur vor sich Dinge, die ihr Begreifen überstiegen. Sie musste bleiben, bis zum Ende, mit eigenen Augen sehen, wie all die Gedanken, all die Geschichten, all die Fragen und Antworten von Menschen, die diese Bücher erdacht und niedergeschrieben hatten, in den Flammen verbrannten, verloren für alle Zeit. Eine Katze floh in weiten Sätzen von der Treppe des Justizpalastes, als würde sie von unsichtbaren Teufeln gehetzt. Sophie griff neben sich, nach einem Halt, nach einem Arm, nach einer Hand.
»Warum weinst du?«
Als sie die Worte hörte, erwachte sie aus ihrer Lähmung. Durch den Schleier ihrer Tränen sah sie das Gesicht eines Mannes. Es war ihr so fremd und vertraut wie ihr eigenes Leben.
18
Der Nebel umfing die beiden wie ein weißes, fließendes Zelt, gesponnen aus unzähligen glitzernden Spinnweben, ohne Anfang und ohne Ende, während sie immer tiefer in die helle Finsternis eintauchten, die sie schützte und barg wie die Ewigkeit.
Sie waren die einzigen Menschen auf der Welt.
»Ich habe dich verraten«, sagte Sophie irgendwann, das Gesicht noch tränennass. »Ich weiß nicht, wie es geschah. Auf einmal hatte ich deinen Namen gesagt.«
»Es war meine Schuld«, sagte Diderot und nahm ihre Hand, die sie ihm ohne nachzudenken überließ. »Ich bin der Verräter, ich habe unsere Geschichte verraten.«
»Ich war so verwirrt, als ich las, was aus Mirzoza geworden war. Sie war so kalt, so berechnend. Es gab keine Liebe mehr zwischen ihr und dem Sultan.«
Er blieb stehen und schaute sie an.
»Hast du die Geschichte zu Ende gelesen?
Sie schüttelte den Kopf.
»Aber dann weißt du ja gar nicht, wie sie ausgeht! Mirzoza besteht die Probe, sie ist die einzige Frau am Hofe, die ihren Mann wirklich liebt. Mongagul erfährt es erst ganz zum Schluss.«
»Das hast du geschrieben?«, flüsterte sie und blickte in seine hellen blauen Augen.
»Ja, Sophie, ich konnte nicht anders.« Er zog sie an sich, ganz dicht. »Es geschah von allein, fast gegen meinen Willen. Am Anfang, ich gebe es zu, wollte ich, dass der Zauberring auch Mirzoza verrät. Aber es ging nicht, mein Arm, meineFeder weigerten sich, ein solches Ende
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