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Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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aufhört zu hoffen oder zu fürchten. Dennoch fürchte ich vonSeiten der Liebe nichts für die guten Sitten; sie kann sie nur vervollkommnen. Denn wer liebt, hat sich daran gewöhnt, seinen Willen dem Wunsch des Geliebten anzuverwandeln. Daraus aber folgt, dass die wahre Liebe äußerst selten ist. Mit ihr verhält es sich wie mit Geistererscheinungen: Alle Welt spricht davon, aber nur wenige haben welche gesehen.«
    Nachdem Sophie das letzte Wort niedergeschrieben hatte, nahm sie eine Büchse vom Regal und streute Sand auf die Seite, damit die Tinte trocknete. Ohne den Text noch einmal zu lesen, faltete sie den Bogen zusammen.
    So müde und zufrieden, wie ein Mensch nur sein kann, wenn er etwas ganz und gar richtig gemacht hat, stand sie auf und trat ans Fenster. Am Himmelsgewölbe, das unmerklich hell geworden war, verblassten gerade die Sterne. Irgendwo erklang auf einem Dach ein schwacher Vogelschrei, ein zaghaftes Zwitschern antwortete, wurde kühner, schallte laut und fröhlich zurück und sprang von Dach zu Dach.
    Sophie fühlte sich plötzlich in helles Licht getaucht, und als sie den Kopf hob, musste sie die Augen schließen, geblendet vom Leuchten der Morgenröte. Ein Gebirge von purpurnen Wolken warf seinen blutroten Schein auf die erwachende Stadt. Langsam stieg der riesige flammende Ball empor, durchbrach die berstende Wolkenwand und besprengte das Häusermeer von Horizont zu Horizont mit seiner Glut.
    In diesem Augenblick fasste Sophie einen Entschluss, mit derselben inneren Gewissheit, die ihr zuvor die Feder geführt hatte, und obwohl sie zugleich wusste, dass dieser Entschluss sie eines Tages vielleicht vernichten konnte, war sie so sicher wie selten im Leben: Sollte einer von ihnen, Diderot oder sie, je aufhören, den anderen so zu lieben, wie sie es in dieser Nacht getan hatte, würde sie ihren Geliebten verlassen.

8
     
    Am nächsten Tag las Sophie Monsieur Poisson aus Montesquieus
Persischen Briefen
vor. Obwohl der Roman, in dem zwei orientalische Standesherren auf die komischste Weise ihre Eindrücke von einer Reise nach Frankreich austauschen, sonst zu ihren Lieblingsbüchern gehörte, war ihr die Lektüre noch nie so lang erschienen wie an diesem Nachmittag. Sie konnte es gar nicht erwarten, Diderot ihren Text zu zeigen. Als Poisson sie endlich entließ, war draußen bereits die Abenddämmerung angebrochen. Eilig lief Sophie in die Rue de la Harpe. Das Redaktionsbüro war leer, doch auf dem Schreibtisch stand eine Tasse dampfender Schokolade. Er konnte also nicht weit sein. Rasch legte Sophie das gefaltete Blatt mit ihrem Manuskript neben die Tasse, gerade rechtzeitig, bevor Diderot den Raum betrat. Sie war so aufgeregt, dass ihre Hand zitterte.
    »Was ist das?«, fragte er, nachdem sie sich begrüßt hatten, und nahm den Bogen vom Tisch. »Ein Artikel über die Liebe?«
    »Keine Ahnung.« Sophie zuckte die Achseln. »Vielleicht hat einer von deinen Autoren den Text gebracht, als du nicht da warst.«
    Während Diderot zu lesen begann, klopfte das Blut in Sophies Adern so laut, dass sie glaubte, es müsse im ganzen Raum zu hören sein. Diderot las ihr Manuskript, den ersten eigenen Text, den sie in ihrem Leben geschrieben hatte! Ruhig und konzentriert folgten seine blauen Augen den Zeilen, doch seine Miene gab mit keiner Regung zu erkennen, was er von dem Inhalt hielt. Schließlich ließ er das Blatt sinken.
    »Großartig«, sagte er, die Stimme voller Bewunderung. »Ein Meisterwerk!«
    Sophie hätte am liebsten laut gejubelt, doch so schwer es ihr fiel, beherrschte sie sich. So harmlos wie möglich fragte sie: »Ja, findest du?«
    Diderot nickte. »Jedes Wort ist zutiefst empfunden, und gleichzeitig ist alles ganz klar und rein. Wie glücklich muss ein Mensch sein, der solche Liebe erfährt. Aber wer zum Teufel hat das geschrieben?«
    »Hat der Verfasser denn nicht unterzeichnet?«
    Er blickte auf das Blatt in seiner Hand, wendete es und schüttelte den Kopf. »Nein. Kein Name, kein Kürzel – nichts.«
    Sophie konnte ein Lächeln nicht länger unterdrücken. »Ich glaube, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als es zusammen herauszufinden. Vielleicht erkennst du ja den Stil.« Sie schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn, und während ihre Münder sich fanden, wiederholten ihre Lippen, ihre Zunge noch einmal, was sie ihm längst gesagt hatte, mit solcher Hingabe und Leidenschaft, dass es keinen Zweifel mehr gab. »Weißt du jetzt«, flüsterte sie, als ihre Lippen sich voneinander

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