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Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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Akademie. Wovon sie lebten, war schleierhaft, manche hatten eine kleine Rente oder Sinekure, der Rest lebte von der Hand in den Mund. Sie kamen aus allen Schichten des Volkes und allen Winkeln des Königreichs, veröffentlichten Gedichte und gewannen Stipendien, um in der Regel doch als Rechtsanwälte oder Staatsdiener zu enden. Es sei denn, sie konnten sich im Sold eines Buchhändlers als Berufsschriftsteller über Wasser halten – wie zum Beispiel Diderot.
    Beim Gedanken an diesen Mann entwand sich Sartines Brust ein Seufzer. Das Erscheinen der Enzyklopädie empfand er als eine persönliche Niederlage – eine Niederlage, die man hätte vermeiden können. Nach Sartines Auffassung wurde die Zensur viel zu lax gehandhabt; noch schlimmer aber als die allgemeine Schludrigkeit war ein Fehler in der Prozedur selbst: dass nämlich nicht die gedruckten, sondern die handschriftlichen Texte die Grundlage der Überprüfung bildeten. Gab es darin etwas zu beanstanden, konnte der Zensor zwar Korrekturen verlangen, doch was damit geschah, stand in den Sternen – den fertig gesetzten Fahnenabzug bekam er nie zusehen. Es genügte also allein das Versprechen des Autors oder des Verlegers, eine angemahnte Änderung vorzunehmen, um die Zensur zu unterlaufen. Diese Schwäche des Systems hatte Diderot beim ersten Band der Enzyklopädie schamlos ausgenutzt. Jetzt war die Enzyklopädie im Handel und enthielt tausend und abertausend Verstöße und Irrlehren, doch versehen mit der Zueignung des Vizekanzlers und Siegelbewahrers, war sie gegen jeden Angriff gefeit.
    Es klopfte an der Tür.
    »Herein!«
    Ein Arbeiter betrat den Raum, die Mütze in der Hand.
    »Ich hätte da wieder was für Sie«, sagte er und deutete grinsend auf seine Tasche.
    Sartine kannte den Mann, er stand auf der Liste derer, die regelmäßig Lohn von ihm bekamen, doch leiden mochte er ihn nicht – eine widerwärtige Spitzelvisage.
    »Leg die Sachen auf den Tisch da drüben!«
    Während der Arbeiter die Tasche öffnete und mehrere Druckbogen auspackte, zückte Sartine sein Portemonnaie.
    »Da«, sagte er und warf ihm eine Münze zu. »Und mach die Tür hinter dir zu!«
    Kaum war der Arbeiter hinaus, eilte Sartine an den Tisch, um die Beute zu inspizieren: ein Dutzend neuer Artikel der Enzyklopädie. Die Bogen rochen noch nach Druckerschwärze, sie kamen frisch von der Presse. Er nahm ein Messer und schnitt sie auf. Ob sie wohl etwas Brauchbares enthielten? Pater Radominsky hatte Auskunft über alles verlangt, was die Philosophen verbreiteten, über jedes Buch, jeden Satz, jedes Wort – ja über jedes Semikolon. Sartine war entschlossen, die nötigen Beweise zu liefern. Auch wenn sein Privatleben nichts mit seinem beruflichen Eifer zu tun hatte, sein Urteilals Soldat der Polizei nie von persönlichen Gefühlen beeinflusst werden durfte – es würde ihm ein Vergnügen sein, Diderot zu überführen, den Mann, der ihm seine Frau und sein Lebensglück geraubt hatte.
    Sartine trug die aufgeschnittenen Seiten zu seinem Schreibtisch und begann zu lesen. Gegen seinen Willen nötigte die Lektüre ihm Bewunderung ab. Was für ein gerissenes System hatten die Enzyklopädisten ersonnen, um die Obrigkeit zu täuschen! Alle Artikel mit verdächtigen Titeln, ob religiösen oder politischen Inhalts, gaben unanfechtbare Lehrmeinungen wieder; scheinbar harmlose Beiträge aber wie »Hirsch« oder »Adler«, auf die kein normaler Zensor je ein Auge werfen würde, strotzten nur so von gemeingefährlichen Thesen, zu denen der Leser durch ein ausgeklügeltes Verweissystem geleitet wurde. Doch Sartine war nicht umsonst ein Leben lang Kriminalbeamter gewesen – ihn führte man nicht an der Nase herum! Beinahe genüsslich verfolgte er die Spuren kreuz und quer durch das Werk. »Anthropophages«, lautete ein Artikel, »Völker, die sich von Menschenfleisch ernähren. Siehe ›Eucharistie‹, ›Kommunion‹, ›Altar‹.« Allein die Aneinanderreihung der Begriffe war eine Gotteslästerung! Als wäre der Empfang der Hostie eine Form von Menschenfresserei … Doch leider war ein Querverweis nicht strafbar.
    Plötzlich stutzte Sartine. Was las er da? »Die Wunder der Bibel können nur historische Wahrheit beanspruchen; selbst die wundersamen Heilungen Jesu Christi haben keine wirkliche Wunderkraft, teilen sie doch viele Merkmale mit den gewöhnlichen Heilungen eines Äskulap …« Obwohl Sartine kein Theologe war, begriff er sofort, dass dieser Satz gefährlichster Sprengstoff war: Hier wurde

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