Die Philosophin
Theologie.
Als sie ihm eines Tages eine umfangreiche Abhandlung mit dem Titel »Gewissheit« zeigte, die sie in nächtelanger Arbeit redigiert hatte, sagte er zunächst kein Wort.
Sie lagen im Bett, beide nackt, schweißnass von der gerade genossenen Lust. Bäuchlings in die Kissen geschmiegt, spürte sie den Wellen nach, die in ihrem Körper verebbten, während er auf ihrem Rücken, den er wie ein Pult benutzte, den Artikel las. Wenn er eine Seite weiter blätterte, kitzelte das Papier auf ihrer Haut wie eine herrliche Erinnerung.
Voller Anspannung wartete sie auf sein Urteil. Sie hatte den Beitrag mit mehreren eigenen Zusätzen versehen und handschriftlich in das Manuskript eingefügt.
»Und – was sagst du?«, fragte sie schließlich, als sie es nicht länger aushielt, und drehte den Kopf zu ihm herum.
»Du behauptest also, dass es keine Wunder auf Erden gibt, die wir Menschen als Zeichen des göttlichen Willens deuten könnten?« Er ließ das Blatt sinken und schaute sie an. »Bist du dir darüber im Klaren, was das heißt? Du stellst hier etwas in Frage, was zu den Grundfesten der Religion gehört. Das kann uns Kopf und Kragen kosten.«
»Ich habe nur die Lehren aus allem gezogen, was ich bisher gelernt habe, aus der Philosophie und aus meinem eigenen Leben, aus der Vernunft und aus der Erfahrung, wie es im Baum der Erkenntnis vorgezeichnet ist. Aber warum schaust du mich so seltsam an?«
Statt ihr eine Antwort zu geben, machte Diderot ihr das schönste Kompliment, das sie sich vorstellen konnte. Er beugte sich zu ihr, gab ihr einen wunderbar zärtlichen Kuss und sagte: »Du bist wirklich eine Philosophin.«
Sophie schlang die Arme um seinen Hals. »Du wirst den Artikel also drucken?«
»Habe ich eine andere Wahl?«, fragte er mit einem zärtlichen Lächeln zurück.
Sie stieß vor Freude einen Jauchzer aus und zog ihn zu sich, mit jeder Pore ihres Leibes bereit, ihn noch einmal in sich aufzunehmen.
»Bist du glücklich?«, fragte er.
»Ja«, sagte sie und umfing ihn in ihrem Innern, so fest sie nur konnte. »Ja, Denis, Geliebter – das bin ich …«
Dann schloss sie die Augen, um nur noch seine Liebe zu spüren.
Der Mann mit dem Federhut gehörte für immer der Vergangenheit an.
10
Wie jeden Morgen begann Antoine Sartine seinen Dienst im Hauptkommissariat der Pariser Polizei Punkt neun Uhr. Seit seiner Beförderung zum Sekretär des Generalleutnants, die vor wenigen Monaten erfolgt war, hatte er ein geradezu herrschaftliches Dienstzimmer. Wenn die Ausübung seines Amtes ihn nicht zwang, außer Haus zu ermitteln, verbrachte er fast sämtliche Stunden des Tages in diesem Raum, den die anderen Beamten inzwischen als seine persönliche Sphäre respektierten und niemals betraten, ohne zuvor anzuklopfen. Ja, wer diesem Staat mit dem schuldigen Eifer diente, konnte es sehr weit bringen – das hatte Sartine schon immer gewusst. Seine Wohnung dagegen benutzte er nur noch zum Schlafen. Die Einsamkeit dort schnürte ihm die Kehle zu.
Zum Glück ließ ihm die Arbeit keine Zeit, sich mit seinen Gefühlen zu beschäftigen. Er war für die Überwachung des gesamten Pariser Buchhandels zuständig – eine Aufgabe, die ebenso viel bürokratische Gründlichkeit wie literarisches Fingerspitzengefühl erforderte. Im ganzen Land brodelte und gärte es. Die Bevölkerung murrte über die Steuerreform, in der Kirche stritten die Jesuiten mit den Jansenisten, welcher Weg zum wahren Seelenheil im Himmel und zu den fettesten Pfründen auf Erden führte, und auch die Auseinandersetzungen zwischen der Krone und dem Parlament um die Macht im Staat wollten kein Ende nehmen. In dieser aufgeheizten Atmosphäre konnte ein Funke genügen, um das Pulverfass in die Luft zu jagen.
Antoine Sartine tat alles, was in seiner Macht stand, um das zu verhindern.
In den Regalen seines Büros reihten sich fast fünfhundert Dossiers, die er persönlich verfasst hatte. Darin fand sich sein Urteil zu Montesquieus
Vom Geist der Gesetze
ebenso wie zu Rousseaus
Abhandlung über die Wissenschaften und die Künste
oder Buffons
Naturgeschichte,
vor allem aber zu zahllosen kleinen und großen Skandalschriften aus dem Bereich der Theologie, der Philosophie und Rechtswissenschaft. Die Verfasser waren so unterschiedlich wie ihre Ergüsse. Die meisten kämpften bloß darum, eine Rezension im
Mercure
zu ergattern, der wichtigsten Zeitung der Stadt, einige wenige bemühten sich um den Einzug in die Comédie Française oder einen Sitz in der
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