Die Phoenix Chroniken: Blut (German Edition)
waren meist auch diejenigen mit den ausgeprägtesten übersinnlichen Begabungen. Sie waren anders als die anderen, ganz anders sogar, und sie flogen irgendwann wieder aus einer Pflegefamilie heraus – um genau zu sein: aus einer nach der anderen. Und zwar darum, weil in ihrer Nähe merkwürdige Dinge geschahen.
Und sie konnten es nicht erklären, selbst wenn sie es versuchten. Wenn sie die Wahrheit sagten, klang es ziemlich unglaubwürdig: Ich weiß nicht, wie es kam, dass der Hund der Familie zerstückelt wurde. Ich kann mich nicht daran erinnern, wie ich aus dem Haus gekommen bin und was ich in den letzten drei Stunden gemacht habe. Ich kann nicht erklären, warum meine Kleider immer zerrissen und blutig sind, ich aber nicht.
Ruthie war der erste Mensch, der mir gesagt hatte, dass es ganz in Ordnung sei, dass ich anhand einer bloßen Berührung Dinge über Menschen wusste . Dass ich nicht böse oder verrückt war. Dass ich es nicht verbergen musste – zumindest nicht vor ihr.
Jimmy und ich schnappten uns unsere Seesäcke und gingen ins Hotel. Die beiden Zimmer lagen direkt nebeneinander. Ich schätze, ich konnte froh sein, dass er nicht zwei getrennte Etagen verlangt hatte.
„Nacht.“ Jimmy verschwand in seinem Zimmer.
Ich ging in meines, sah die Verbindungstür und fühlte mich ein wenig besser – bis ich sie öffnete und feststellte, dass die Tür auf seiner Seite verschlossen blieb. Ich ließ meine Tür trotzdem offen und ging unter die Dusche.
Das Blut war inzwischen getrocknet, und es dauerte einige Zeit, es ganz abzuwaschen. Ich ließ meine Haare an der Luft trocknen – sie waren ja ziemlich kurz. Im ersten Jahr bei der Polizei hatte ich auf die harte Tour gelernt, dass lange Haare für alle möglichen Idioten die reinste Einladung sind, daran zu ziehen oder Kaugummis hineinzuspucken. Also hatte ich meine langen braunen Strähnen schon nach ein paar Wochen abgeschnitten und hielt sie jetzt kurz, indem ich mit jedem scharfen Gegenstand daran herumsäbelte, der mir in die Finger kam. Aus irgendeinem Grund stand mir dieser chaotische, unsymmetrische Schnitt ziemlich gut zu Gesicht.
Es war ein exotisches Gesicht, hatte ich mir sagen lassen. Meine Haut wirkte dunkler als die einer Durchschnitts-Weißen und deutete auf einen farbigen Elternteil hin, und die strahlend blauen Augen waren ebenso rätselhaft wie der Rest von mir.
Das Hotel schien mir besser als die, in denen ich in letzter Zeit übernachtet hatte. Es gab eine Minibar, und ich kam endlich zu dem Bier, das ich mir so gewünscht hatte. Zehn Dollar. Ich öffnete die Flasche. Jimmy konnte es sich leisten.
Meine finanzielle Situation änderte sich ständig. Den Wechsel von der Polizistin zur Kellnerin würden die meisten wohl als Abstieg bezeichnen, aber wenn in einer Nacht viel los war, konnte die Arbeit hinter dem Tresen definitiv mehr abwerfen. Seit ich jedoch als Anführerin des Lichts unterwegs war, hatte ich gar kein regelmäßiges Einkommen mehr.
Meine einzigen Einnahmen stammten aus einer Immobilie, die ich nach meinem Ausstieg bei der Polizei gekauft hatte – das war ein Ladenlokal, das ich an einen Nippesladen vermietete, und dann ein Apartment im ersten Stock, in dem ich selbst gewohnt hatte, bis mich die ganze Dämonenbande dort aufgespürt hatte.
Vor nicht allzu langer Zeit war direkt vor meiner Tür eine Seherin ermordet worden. Dass sie in zwei Teile gerissen worden war, hatte bei der winzigen Polizeieinheit in Friedenberg, einem Örtchen mit dreitausend Einwohnern, für ziemliche Bestürzung gesorgt. Das FBI war hinzugezogen worden. Meines Wissens galt dieser Fall bisher noch als ungelöst. Wahrscheinlich würde er es für immer bleiben.
Ich hätte die Wohnung vermieten können, um meine Einnahmen zu erhöhen, vorausgesetzt ich fand jemanden, der bereit war, über diese ganze Frau-vor-der-Haustür-ermordet-Geschichte hinwegzusehen. Doch die Vorstellung, kein Zuhause zu haben, so wie Jimmy, schnürte mir den Magen zu. Das weckte zu viele Erinnerungen an die Zeit, bevor ich Ruthie kennengelernt hatte. Ich mochte ja ein knallhartes, zähes, Dämonen jagendes Medium sein, aber der Gedanke daran, kein Zuhause zu haben, jagte mir eine Scheißangst ein.
Ich trank den letzten Schluck meines Biers und sah auf die Uhr. Drei Uhr morgens, und die Verbindungstür war immer noch geschlossen. Aus Jimmys Zimmer war nur Stille zu hören. Mir blieb nichts zu tun, als ins Bett zu gehen, auch wenn ich bezweifelte, dass ich würde schlafen
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