Die Pilgergraefin
besorgen“, schloss Leonor den langen Bericht über das, was ihr in den letzten Wochen widerfahren war, seitdem sie sich Pater Anselms Pilgergruppe angeschlossen hatte. Nur kurz hatte sie überlegt, ob sie dem Chevalier verheimlichen sollte, dass sie eine Gräfin war, denn sie befürchtete, dass er sie dann in die Heimat und in die Obhut – oder besser gesagt – Gewalt ihres Schwagers zurückeskortieren lassen würde. Doch schließlich hatte sie sich entschlossen, die Wahrheit zu sagen, denn, wie es so schön hieß: Lügen haben kurze Beine.
Angespannt zupfte sie am Ausschnitt ihrer zweiten Tunika, die sie nach der Ankunft am See der Satteltasche entnommen und im Schutz eines dichten Gebüschs übergezogen hatte. Bei dem Gedanken daran, dass Trouville ihre Brüste gesehen hatte, war ihr die Röte in die Wangen gestiegen, und Hitzewellen hatten ihren Schoß durchströmt.
Robyn hatte Leonor gebannt zugehört, nur ab und zu eine Frage eingeworfen. Er war beeindruckt von der Kraft der jungen Frau, der es gelungen war, all diese schweren Fährnisse zu überwinden und ungebrochen und sogar gestärkt aus ihnen hervorzugehen.
„In der Tat, Ihr seid eine bemerkenswerte Frau, Comtesse. Kaum eine Dame Eures Standes hätte sich so wacker geschlagen.“ Robyn empfand Bewunderung für Leonor. Doch wie sollte es weitergehen? Er hatte eine Mission zu erfüllen, die von höchster Bedeutung für die ganze Christenheit war, und durfte sich nicht mit einer zarten Frau belasten. Aber halt! Leonor war keine verzärtelte Gräfin mehr, sie hatte bewiesen, dass sie Hindernisse aller Art überwinden und meistern konnte … Und dennoch – unmöglich, die Reise mit ihr als Frau fortzusetzen!
„Was geschieht nun mit mir, Chevalier? Ich muss nach Rom, um meine Schuld zu büßen – vielleicht treffe ich dort auch Pater Anselm und die Pilgergruppe wieder und kann mich ihnen für den Rückweg anschließen. Obwohl, wer weiß, was mich in der Heimat erwartet. Ich habe Euch ja von Graf Lothar und Baron Attenfels erzählt.“ Aus großen Augen sah sie Robyn de Trouville an. „Ach, ich weiß nicht, wie es mit mir weitergehen soll. Selbst wenn ich Vergebung für meine Sünden am Grab des heiligen Apostels erlangt habe, welches Schicksal steht mir dann bevor?“
Eine Weile verlor Robyn sich in den Tiefen ihrer Augen, bevor er sich in die Gegenwart zurückzwang.
„Ich habe über Eure Geschichte nachgedacht, Comtesse“, begann er schließlich. „Findet Ihr es nicht seltsam, dass außer Eurem Gatten, Eurem Sohn, dem Schwager und einigen von dessen Gästen niemand an der vermeintlichen Seuche gestorben ist? Nicht einmal Eure geschwächte Schwester und das Neugeborene?“
Nachdenklich nickte Leonor. „Nun, Sieur, gelegentlich wollte ich über Anna, der ich in meinem ersten Schmerz verboten hatte, darüber zu sprechen, noch mehr in Erfahrung bringen. Aber sie konnte mir später, als ich sie danach gefragt habe, auch nicht mehr sagen.“ Leonor trank einen Schluck Wasser und warf Tarras ein Stück Käse zu, das dieser sich schmecken ließ.
„Meint Ihr also auch, dass gar nicht die Pest, von der man sagt, dass sie eine von Gott geschickte Strafe ist, in Freiburg gewütet hat, sondern dass Eure Verwandten auf andere Art ums Leben gekommen sind? Vielleicht hat jemand sie vergiftet?“
Leonor schüttelte den Kopf. „Aber es gab niemanden, der ihnen nach dem Leben trachtete. Mein Gemahl und mein Schwager waren allerorts wohlgelitten. Sie waren aufrechte Christenmenschen, haben niemanden unterdrückt oder gepeinigt. Sie waren keine schlechten Herren und Tyrannen wie Baron Attenfels, der von allen gehasst wird.“
Robyn fuhr sich übers Kinn und bemerkte, dass er einer Rasur bedurfte. „Auf meinen Fahrten habe ich viel von der Welt gesehen und so mancherlei seltsame Dinge gehört. Was genau in Freiburg geschah, vermag ich natürlich nicht zu sagen, doch die Geschichte vom Ausbruch einer neuen Seuche dünkt mich recht merkwürdig.“
Leonor trank noch einen Schluck Wasser, obwohl sie gar nicht mehr durstig war. Sie fühlte sich angespannt wie die Sehne eines Langbogens. Drei Fragen schwirrten ihr durch den Kopf: Was war in Freiburg wirklich geschehen, und würde sie es jemals erfahren?
Und wie würde der Chevalier über ihre weitere Zukunft entscheiden?
Wieder und wieder ging Robyn die ergreifende Geschichte Leonors durch den Sinn. Wie sollte er sich entscheiden, was diese tapfere Frau betraf, die ihn so sehr berührte und anzog? Zwar
Weitere Kostenlose Bücher