Die Pilgergraefin
hielt sich in Grenzen, und die Mahlzeiten waren reichhaltig und schmackhaft.
Doch ein Blick auf seinen bleichen Knappen, auf dessen Wangen sich rote Flecken abzeichneten und der sich nur noch mühsam auf den Beinen hielt, sagte ihm, dass dieser dringend eines Bettes und eines Medicus bedurfte. Und so nahm er den Geschwächten beim Arm, stützte ihn und half ihm ins Haus.
Als sie die Gaststube betraten, wurde Robyn auch hier gewahr, dass sich seit seinem letzten Aufenthalt etwas geändert hatte. Alles wirkte verwahrlost und heruntergekommen. Eine Frau mit schmutziger Haube und fleckiger Schürze näherte sich ihm. Und er musste zweimal hinschauen, um Joséphine, die Wirtsfrau, in ihr zu erkennen.
Diese schien sich jedoch sofort an ihn zu erinnern, denn sie raffte die Röcke und knickste ehrerbietig. „Seid willkommen, Chevalier. Welche Freude, Euch wiederzusehen.“
Robyn blickte sich in der heruntergekommenen Schankstube um und warf Joséphine einen fragenden Blick zu.
Die Frau errötete und schien sichtlich verlegen. „Mein … mein Mann“, stotterte sie und tupfte sich mit einem Zipfel ihrer Schürze die Augen.
„Was ist mit deinem Mann?“, erkundigte sich Robyn.
„Er ist … er ist … Ach Chevalier, ohne ihn, so ganz auf mich allein gestellt, ist alles so schwer in dieser Welt.“
Auch wenn Robyn das Schicksal der Frau nicht unberührt ließ und er neugierig war, was ihrem Mann widerfahren war, so galt doch seine vordringlichste Sorge Jérôme.
„Meinem Knappen geht es nicht gut. Bring ihn in deine beste Kammer, und bereite eine stärkende Brühe für ihn zu“, ordnete er an. „Praktiziert Docteur Eusebius noch in der Stadt?“, verlangte er zu wissen.
„Ja, gewiss. Der Medicus lebt nach wie vor in Avignon.“
„Wohlan denn, so schick nach ihm, auf dass er sich um meinen Knappen kümmere. Ich werde mich derweil zum Papstpalast begeben und dem Sekretär Seiner Heiligkeit meine Ankunft vermelden lassen.“
Joséphine knickste erneut und geleitete den geschwächten Jérôme, der sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte, zu der hölzernen Stiege, die ins Obergeschoss führte.
Als hätte nicht eben noch Weltuntergangsstimmung geherrscht, schickte sich die Sonne, nachdem das Unwetter vorüber war, an, in einem blutroten Farbenrausch hinter den Berggipfeln zu versinken.
Leonor und Anna, die trotz der Felsnase, unter die sie sich gekauert hatten, zwar durchnässt, aber unversehrt waren, sprachen ein Dankgebet, dass sie das Inferno aus Blitzen, Donnerschlägen und Regenfluten unbeschadet überstanden hatten. Sie beratschlagten sich, und Leonor entschied schließlich, dass sie die Nacht unter der Felsnase verbringen und erst am nächsten Morgen ihren Weg fortsetzen würden.
Anna war froh über diesen Beschluss, denn erneut quälten sie Schmerzen. Sie hüllte sich in ihren Umhang und versuchte, auf dem felsigen Untergrund eine möglichst bequeme Position zu finden. Erschöpft von den Anstrengungen des Tages, schlief sie trotz des harten Bodens alsbald ein.
Leonor hingegen lag noch eine ganze Weile wach. Immer wieder musste sie an Annas Geständnis denken. Und immer wieder traten Bilder von den Geschehnissen in Freiburg vor ihre Augen. Von der schweren Niederkunft ihrer Schwester. Vom Tod ihrer Liebsten. Von deren Totenmesse in der Burgkapelle. Dann von ihrer Flucht vor Baron Attenfels. Sie sah die Scheune, in der sie auf der Pilgerfahrt Zuflucht gesucht hatten, in Flammen aufgehen, hörte Margas Schmerzensschreie … Und erneut wanderten ihre Gedanken zurück nach Freiburg ins Haus ihres Schwagers, wo so viele Menschen völlig überraschend gestorben waren. Was für eine Seuche war das, die nur Opfer unter den Gästen eines Festmahls forderte? War es überhaupt eine Seuche oder irgendeine andere Krankheit gewesen, die der Himmel ihnen als Strafe geschickt hatte? Oder steckte etwas ganz anderes hinter dem Tod all dieser Menschen?
Leonor fand keine Antwort darauf, denn nun überfiel auch sie die Müdigkeit nach dem schier endlosen, erschöpfenden Aufstieg und den Schrecken des Unwetters. Schon halb im Schlaf kuschelte sie sich an Anna und versank in den gleichen Albtraum, der sie auch schon die letzten Nächte gequält hatte.
Diesmal erschienen ihr jedoch an seinem Ende kein Engel und kein Ritter.
Ein Wunder, dass der noch lebt und seine schwarze Seele nicht bereits in der Hölle schmort, dachte Medicus Friedericus, nachdem er den geschundenen Körper des Barons von Attenfels untersucht hatte.
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