Die Pilgergraefin
recht sorgenvolle Miene. Genaueres hat er mir jedoch nicht verraten. Morgen früh wird er wiederkommen und prüfen, ob sein Kräutersud seine Wirkung getan hat.“
Robyn kratzte sich im Nacken. Hatte er sich bei Pater Ignatius etwa Läuse eingefangen oder nur die Geste des Mönches übernommen?
„Ich werde sofort nach Jérôme sehen. Und in der Zwischenzeit bereite mir eine kräftige Mahlzeit zu. Ich bin hungrig wie ein Bär.“
Joséphines Hände verkrampften sich in der Schürze, und sie blickte betreten zu Boden. „Ach Chevalier, ich weiß gar nicht, was ich Euch anbieten soll. Seit mein lieber Mann …“
Unwillig, weil sein Magen in diesem Augenblick kräftig knurrte, versetzte Robyn schroff: „Aber gewiss wirst du doch ein Hühnchen oder ein paar Koteletts mit Wurzelgemüse auf den Tisch bringen können.“
Joséphine knickste erneut. „Ich werde mein Bestes tun, Chevalier, doch seit mein Mann …“
Robyn stapfte in Richtung der Stiege, die ins Obergeschoss der Herberge führte, und blickte sich kurz zu Joséphine um.
„Nun, gute Frau, ich schaue jetzt nach Jérôme. Danach servierst du mir etwas Essbares, und dann wirst du mir erzählen, was deinem Mann widerfahren ist und warum deine Herberge einen solchen Niedergang erlitten hat.“
Hinter den schneebedeckten Gipfeln der Berge hatte die Sonne sich wie ein roter Feuerball erhoben und mit ihren Strahlen Leonor aus einem unruhigen Schlummer geweckt. Sie blickte zur Seite und sah Anna, die den Kopf an ihre Schulter gebettet hatte und leise schnarchte. Gute Anna, was würde ich ohne dich in dieser gebirgigen Einöde tun, dachte sie und betrachtete liebevoll die Vertraute, die ihr, ohne zu zögern, auf diesen steinigen Weg voller unbekannter Fährnisse gefolgt war. Schon seit Längerem sah sie in Anna nicht mehr die Bedienstete, die sich getreulich um ihr leibliches Wohl sorgte, sondern die Gefährtin, die sie auf ihrem langen Weg ins Ungewisse begleitete. Ein Weg, der noch gefährlicher und ungewisser war, seitdem sie die Pilgergruppe um Pater Anselm verloren hatten. Nun waren sie auf sich gestellt in diesem unwegsamen Gebirge, auf einem schmalen Pfad, von dem sie nicht wussten, wohin er führte. Lebten tatsächlich Menschen in dieser kargen Bergregion, die ihnen helfen, sie mit Nahrung versorgen und ihnen den Weg gen Rom weisen konnten? Zwar hatte sie dies zu Annas und zu ihrem eigenen Trost immer wieder behauptet, doch allmählich kamen ihr Zweifel daran, dass die Gegend besiedelt war.
Wie schon so oft auf dieser Pilgerfahrt schickte Leonor ein Stoßgebet zum Himmel, dankte dem Schöpfer, dass sie die bisherige Reise ohne Schaden an Leib und Leben überstanden hatten, und bat ihn um seinen weiteren Beistand für den langen Weg, der noch vor ihnen lag. Auch schloss sie Anna in ihr Gebet mit ein und bat darum, dass sie nicht wirklich ernsthaft erkrankt sei.
Mit einem Knurren meldete sich ihr leerer Magen, und dies so laut, dass Anna aus ihrem Schlummer erwachte. Sie schlug die Augen auf und fragte: „Wo sind wir, Herrin?“
„Ich weiß es nicht, Anna, aber ich weiß, Gott wird unsere Schritte lenken.“
Fromm bekreuzigte sich die Kammerfrau, murmelte ein kurzes Morgengebet, erhob sich ächzend und blickte sich um.
Ein Wanderer, der ein mit Nahrung gefülltes Ränzel gehabt und den Weg zu seinem Ziel gekannt hätte, wäre gewiss beim Anblick der herrlichen, im rötlichen Licht der Morgensonne vor ihnen ausgebreiteten Landschaft in ein Loblied auf die Schönheit der Schöpfung ausgebrochen. Die hungrige Anna hingegen schlug erschöpft und verzagt, wie sie war, lediglich die Hand vor den Mund, um ein Gähnen zu verbergen, und wandte sich erneut an Leonor.
„Wie soll es denn nur weitergehen? Mich dünkt, bis Rom ist es noch sehr weit, denn ich sehe hier nichts als Berggipfel und Geröllfelder. Kein menschliches Wesen weit und breit.“ Sie legte die Hand an die Augen und schaute sich um, als könnte sie auf diese Weise ein Dorf oder wenigstens eine Almhütte herbeizaubern.
Leonor streckte sich, um die Steifheit aus ihren Gliedern zu vertreiben. So heiß die Tage auch waren, die Nächte brachten eine Kälte, die fast dem Frost des Winters glich. Sie griff nach ihrem Bündel, nahm den Wasserschlauch und trank einen kräftigen Schluck.
„Wenigstens müssen wir nicht verdursten, liebe Anna. Und ich bin sicher, dass wir auf unserem Abstieg an einer Sennhütte oder einem Einödhof vorbeikommen werden“, behauptete sie trotz ihrer Zweifel.
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